«Die Schilddrüse – kleines Organ, grosse Wirkung»

  14.10.2014 Aktuell, Bildung, Burgdorf

«Die Schilddrüse – ein kleines Organ mit grosser Wirkung». So lautet das Motto des nächsten Publikumsvortrags vom 16. Oktober im Spital Emmental in Burgdorf. Gleich drei hier tätige Fachärzte befassen sich mit dem Thema Schilddrüse und beantworten Fragen aus dem Publikum: Dr. med. Bernard Chappuis (Leitender Arzt Diabetologie/Endokrinologie), Dr. med. Daniel Geissmann (Stellvertretender Chefarzt Chirurgie) und Prof. Dr. med. Stephan Vorburger (Chefarzt Chirurgie).

«D’REGION»: Welches ist der Inhalt des Vortrags?
Dr. Chappuis: Ich werde den Vortrag eröffnen und in einem ersten Teil über die Schilddrüse im Allgemeinen sowie über mögliche Funktionsstörungen und knotige Veränderungen berichten. Dr. Geissmann und Prof. Dr. Vorburger werden dann auf die neusten Operationstechniken eingehen und über die Resultate nach der Behandlung sprechen.

«D’REGION»: Wie kann sich der Laie die Schilddrüse vorstellen?
Dr. Chappuis: Die Schilddrüse – lateinisch Thyreoidea – ist ein kleines, aber lebenswichtiges Organ. Sie hat eine schmetterlingsähnliche Form und befindet sich gleich unterhalb des Kehlkopfes vor der Luftröhre. In der Schilddrüse werden jodhaltige Hormone gebildet, welche vielfältige Stoffwechselprozesse im gesamten Körper steuern.

«D’REGION»: Was gibt es für Erkrankungen der Schilddrüse?
Dr. Chappuis: Einerseits kann die Hormonproduktion gestört sein im Sinne einer erhöhten oder mangelhaften Produktion und Freisetzung von Schilddrüsenhormonen. Man spricht dabei von Überfunktion (Hyperthyreose) oder Unterfunktion (Hypothyreose). Die Ursachen sind sehr vielfältig. Andererseits kann die Schilddrüse per se Veränderungen aufweisen. Sie kann als Gesamtes vergrössert sein (Kropf) oder einzelne oder mehrere Knoten aufweisen. Letztere sind meist gutartig, leider manchmal aber auch bösartig.

«D’REGION»: In der Schilddrüse werden lebenswichtige Hormone produziert. Was bewirkt ein Zuviel, was ein Zuwenig davon?
Dr. Chappuis: Schilddrüsenhormone beeinflussen ähnlich eines Katalysators viele Organsysteme. Eine Unterfunktion hat zur Folge, dass zahlreiche Funktionen des Körpers langsamer ablaufen. Dies führt zu Müdigkeit, Gewichtszunahme trotz fehlendem Appetit, Verstopfung, gesteigerter Kälteempfindlichkeit, langsamem Puls und so weiter. Bei der Überfunktion finden sich gegenteilige Beschwerden wie zum Beispiel vermehrte Unruhe und Nervosität, Gewichtsabnahme, Durchfall, Schwitzen und Herzklopfen. Die Beschwerden können sehr unterschiedlich ausgeprägt und von Mensch zu Mensch verschieden sein, was die Diagnose manchmal schwierig macht.

«D’REGION»: Wie kann man eine Schilddrüsenüberfunktion therapieren, wie eine Schilddrüsenunterfunktion?
Dr. Chappuis: Im Falle einer Unterfunktion ist eine Behandlung mit Schilddrüsenhormonen angezeigt. Diese werden als Tabletten jeweils nüchtern 30 Minuten vor dem Frühstück eingenommen. Um zu kontrollieren, ob die Dosis stimmt, werden die Schilddrüsenwerte in gewissen Abständen im Blut kontrolliert. Bei der Überfunktion hängt das therapeutische Vorgehen von der Ursache ab. Oftmals wird mit Medikamenten behandelt, welche die Hormonproduktion bremsen. Aber auch die Radiojodtherapie sowie die Operation können – abhängig von der Situation – einen wichtigen Stellenwert haben.

«D’REGION»: Wie verläuft eine Untersuchung bei Verdacht auf eine Erkrankung der Schilddrüse?
Dr. Chappuis: Wichtig ist zu erfahren, wie man zu diesem Verdacht gekommen ist. Wir führen deshalb in einem ersten Schritt immer ein eingehendes Gespräch mit dem Patienten durch. Wir fragen zum Beispiel nach den Beschwerden oder ob ein Knoten selbst bemerkt oder im Rahmen einer Bildgebung zufälligerweise entdeckt worden ist. Nebst einer gründlichen Körperuntersuchung veranlassen wir eine Blutentnahme zur Bestimmung der Schilddrüsenwerte. Besteht eine Schwellung der Schilddrüse, wird meist ein Ultraschall und bei Vorliegen von Knoten gegebenenfalls eine Feinnadelpunktion durchgeführt. Dabei werden mit einer feinen Nadel Zellen aus dem Knoten gewonnen, die vom Pathologen unter dem Mikroskop untersucht werden. Die Analyse zeigt uns, ob es sich um eine gut- oder bösartige Veränderung handelt.

«D’REGION»: Wenn ein Kropf mit Knoten vorliegt – versucht man vor einer Operation vorerst eine Therapie mit Medikamenten?
Dr. Chappuis: Führt der Kropf zu Beschwerden wie Atemnot oder Schluckstörungen, steht die Operation an erster Stelle. Dies gilt auch für Knoten ab einer gewissen Grösse oder falls Krebsverdacht besteht. Mit Medikamenten können Knoten nicht zum Verschwinden gebracht werden. Manchmal produzieren Knoten aber autonom – ungebremst – Schilddrüsenhormone. In dieser Situation ist zum Beispiel vor einer Operation eine medikamentöse Therapie angezeigt, welche die Hormonproduktion hemmt.

Prof. Vorburger: Häufig befindet sich der Patient beziehungsweise die Patientin in der Situation, dass ein Knoten entdeckt wurde und dieser im Laufe der Zeit wächst. Auch die Entnahme von wenigen Zellen mit einer Nadel – Feinnadelpunktion – zur Bestimmung, ob Krebs vorliegt, ist meist nicht schlüssig. Je nach Wachstumsgeschwindigkeit, aber vor allem auch je nach psychischer Belastung durch das Wissen, dass an der Schilddrüse ein Knoten wächst, ist die Operation durchaus auch schon bei kleinen Knoten sinnvoll. Auf jeden Fall sollte nicht so lange gewartet werden, dass der Knoten die Luftröhre zur Seite schiebt. Dann kann nämlich die nötig gewordene Entfernung der Schilddrüse die Luftröhrenwand zusätzlich schwächen. Speziell bei jungen Patientinnen und Patienten können wir, als eine der wenigen Kliniken in der Schweiz, auch minimal-invasiv – also mit der Kamera – die Schilddrüse entnehmen. Dies allerdings nur bei kleinen Knoten bis zweieinhalb Zentimeter, sodass auch ästhetisch ein schönes Resultat erwartet werden kann.

«D’REGION»: Weist Ihnen der Hausarzt die Patienten zu?
Dr. Geissmann: Tatsächlich kommen die Patienten oft via Hausarzt zu uns. Sie schildern dem Hausarzt ihre Beschwerden. Dieser führt erste Abklärungen bezüglich einer möglichen Knotenbildung und des Hormonhaushaltes durch und weist uns die Patienten mit den Unterlagen danach zu. Hier werden gegebenenfalls ergänzende Abklärungen vorgenommen beziehungsweise wird der Patient durch Dr. Chappuis vollständig abgeklärt.

«D’REGION»: Was hat es mit dem Jod auf sich – kann durch einen Mangel ein Kropf entstehen?
Dr. Geissmann: Zur Produktion der Schilddrüsenhormone braucht die Schilddrüse das Jod aus der Nahrung. Eine Abnahme der Jodaufnahme führt über einen Regelmechanismus der Hirnanhangdrüse als Steuerorgan zu einer Stimulation des Wachstums der Schilddrüse und so zur Schilddrüsenvergrösserung – Struma oder Kropf. Dadurch kann zumindest vorübergehend durch die Vergrösserung der Schilddrüse der Schilddrüsenhormonspiegel auf den geforderten Normalwert erhöht und stabilisiert werden. Bleibt der Jodmangel bestehen, wächst die Schilddrüse weiter und kann trotz der Grössenzunahme mit der Zeit nicht mehr genügend Schilddrüsenhormone produzieren, um den Bedarf des Körpers zu decken. So entsteht eine Unterfunktion der Schilddrüse. Durch die Einnahme des in der Schweiz jodierten Kochsalzes kann man dieser Kropfbildung ganz einfach vorbeugen.

«D’REGION»: Wie häufig ist Schilddrüsenkrebs in der Schweiz?
Dr. Geissmann: In der Schweiz sind es rund 550 Menschen pro Jahr, die an Schilddrüsenkrebs erkranken. Dies entspricht bei uns eineinhalb Prozent aller Krebserkrankungen. Dabei sind Frauen viel häufiger betroffen als Männer. Im Gegensatz zu anderen Krebsarten tritt Schilddrüsenkrebs häufig auch schon bei jüngeren Menschen auf. Knapp die Hälfte der Patienten ist zum Zeitpunkt der Diagnose jünger als 50 Jahre. In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl der Neuerkrankungen weltweit leicht angestiegen. Interessant ist, dass sich in jedem sechsten Knoten auch unerwartet kleine Krebsherde finden lassen.
«D’REGION»: Wie schlimm ist Schilddrüsenkrebs im Vergleich zu anderen Krebsarten?
Prof. Vorburger: Schilddrüsenkrebs hat eine Sonderstellung unter den «Krebs»-Erkrankungen. Der Verlauf in den allermeisten Fällen ist positiv. Auch – oder besonders – junge Patienten haben die volle Lebenserwartung wie gleichaltrige ohne Schilddrüsenkrebs. Sogar bei Befall der Lymphknoten – oft der erste Filter von abgehenden Krebszellen – ist die Prognose nicht schlechter. Diese Eigenschaften machen die bösartigen Schilddrüsenerkrankungen  zum schwarzen Schaf unter den anderen bösartigen «Tumoren».

«D’REGION»: Umweltschützer be­haupten, der Elektrosmog beeinträchtige die Funktion der Schilddrüse. Stimmt das?
Dr. Geissmann: Für das Auftreten von Schilddrüsentumoren gibt es sichere Risikofaktoren: radioaktive Bestrahlung wie in Tschernobyl, Bestrahlung im Kindesalter mit Röntgenstrahlen, sehr selten eine Vorbelastung durch in der Familie bereits aufgetretenen Schilddrüsenkrebs und ganz selten Gendefekte. Andere Faktoren konnten bisher nicht als Risikofaktoren bestätigt werden.

«D’REGION»: Welche Diagnosen erfordern eine Operation, und in welchen Fällen verordnen Sie eine Therapie mit radioaktivem Jod?
Dr. Geissmann:. Je grösser der Knoten ist und je rascher dieser wächst, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser bösartig ist. In dieser Situation wird daher häufig operiert, weil sich nur aus der Aufarbeitung des ganzen entfernten Schilddrüsenmaterials die genaue Diagnose erstellen lässt. Eine Operation muss auch immer dann vorgenommen werden, wenn die Vergrösserung der Schilddrüse zu einer mechanischen Einengung der Luftröhre oder der Speiseröhre führt. Eine Therapie mit radioaktivem Jod kann in Fällen  gutartiger Schilddrüsenerkrankungen mit einer Überfunktion – oder Tendenz zur Überfunktion – die von Schilddrüsenknoten oder Autoimmunerkrankungen – Morbus Basedow – ausgehen, eingesetzt werden. In bestimmten Fällen ist sie auch als Nachbehandlung nach Operationen erforderlich.

«D’REGION»: Wie muss man sich eine operative Schilddrüsenentfernung vorstellen?
Prof. Vorburger: Gerne zeigen wir am Vortragsabend Bilder zur Operation. Diese zu beschreiben, fällt schwer. Wir haben hundert Patienten nach einer Schilddrüsenoperation nach Belastung und Schmerzen befragt. Bei allen zeigte sich, dass die Bedenken und die Angst vor der Operation immer wesentlich belastender waren, als der Eingriff und die darauffolgenden Tage. Meist erholen sich die Patienten innert 24 Stunden vom Eingriff und können nach wenigen Tagen nach Hause, wo das normale Leben wieder aufgenommen werden kann. Durch die Entfernung einer betroffenen Schilddrüsenseite kann natürlich das Wachstum eines Knotens auf der Gegenseite nicht ausgeschlossen werden. Deshalb sind die Vorabklärungen so wichtig. Sollte sich dabei zeigen, dass auch die Gegenseite eine Tendenz zur Knotenbildung hat, so wird besser im gleichen Eingriff die ganze Schilddrüse – beide Seiten – entfernt.

«D’REGION»: Was geschieht nach einer solchen Operation mit dem Patienten?
Prof. Vorburger: Nachkontrollen bei gutartigen Erkrankungen betreffen den Schilddrüsenhormonhaushalt. Dieser wird am Anfang in mehrwöchigen Abständen, später seltener, entweder durch den Hausarzt oder unsere Endokrinologen kontrolliert. Sollte sich ein bösartiger Knoten zeigen, ist oft eine ein- bis zweimalige Nachbehandlung mit präpariertem Jod nötig. Ultraschalluntersuchungen werden dann zu Beginn oft in jährlichen Abständen durchgeführt.

«D’REGION»: Wie viele solcher Operationen führen Sie am Spital Emmental jährlich durch – und mit welchem Erfolg?
Prof. Vorburger: Unser Team führt zirka 50 Schilddrüsenoperationen pro Jahr durch. Dabei sind die Komplikationsraten – jeweils zirka um ein Prozent – vergleichbar mit grossen und spezialisierten Kliniken in Europa.

Zu den Personen
Privatdozent Prof. Dr. med. Stephan Vorburger (51) ist Spezialist auf dem Gebiet bösartiger Tumore. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern (14- und 16-jährig) wohnt er in Liebefeld. Nach Abschluss des Staatsexamens an der Uni Bern (1989) war er an Spitälern in Interlaken, Bern, Basel, Lugano und Zürich tätig. 2003 folgte ein zweieinhalbjähriger Forschungsaufenthalt in Amerika. Am Inselspital Bern leitete er die Tumorforschung. Er ist auch Lehrbeauftragter an der Uni Bern und veröffentlichte Forschungsergebnisse über neue Behandlungsmöglichkeiten von Tumoren, des Magen-Darm-Traktes und der Schilddrüse.

Dr. Bernard Chappuis ist seit 2006 als Leitender Arzt Diabetologie/Endokrinologie am Spital Emmental tätig. 1998 und 1999 war er hier Assistenzarzt. St. Gallen, Münchenbuchsee, Inselspital Bern und Cambridge (England) waren weitere berufliche Stationen des 43-Jährigen. Er ist in Bern aufgewachsen und lebt auch jetzt mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen 4-jährigen Sohn in der Bundesstadt.

Dr. med. Daniel Geissmann ist 52-jährig, verheiratet und Vater eines 18-jährigen Sohnes. Er wohnt in Gerolfingen. Seit 2003 ist er am Spital Emmental tätig, zuerst als Leitender Arzt und seither als Stellvertretender Chefarzt Chirurgie. Er hat hier die laparoskopische Chirurgie – Schlüssellochchirurgie – aufgebaut. Nach dem Uni-Abschluss war er am Universitätsspital Basel, in Lugano, Biel und Luzern tätig. Geboren und aufgewachsen ist er in Basel.

Hans Mathys


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