Zöliakie – das Leben mit Glutenunverträglichkeit

  13.10.2015 Aktuell, Burgdorf, Gesellschaft

Übermorgen Donnerstag, 15. Oktober, 19 bis 20 Uhr, findet im Spital Emmental in Burgdorf unter dem Titel «Zöliakie – häufig ein langer Weg bis zur Diagnose, und ein Leben damit» der nächste Publikumsvortrag statt. Bei Menschen, die an Zöliakie leiden und glutenhaltige Nahrungsmittel nicht vertragen – was auf einer vererblichen Veranlagung beruht –, entsteht eine Entzündung der Dünndarmschleimhaut – zuweilen mit einer ausgedehnten Zerstörung der Darm­oberflächenzellen. Durchfall, Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Müdigkeit und Depressionen können mögliche Symptome sein. Die Referierenden in Burgdorf sind der Leitende Arzt Gastroenterologie Dr. med. Stefan Bauer und Verena Wyss. Sie ist Leiterin Ernährungsberatung. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Im Anschluss an den Vortrag lädt das Spital Emmental zu einem kleinen Apéro ein, bei dem die Referenten für Fragen zur Verfügung stehen.

«D’REGION»: Wer an Zöliakie erkrankt ist, muss sein Leben radikal umstellen. Gibt es in der Schweiz viele solche Patienten, und wie manifestiert sich die Krankheit?
Dr. Bauer: In der Schweiz geht man von einer Person mit Zöliakie auf 150 Einwohner aus. Bei ihnen macht sich die Sprue – so wird die Krankheit auch genannt – je nach Ausprägung mit Durchfall, Blähungen, Bauchkrämpfen, Gewichtsverlust und Anfälligkeit auf Infektionskrankheiten bemerkbar. Weil der Körper nur noch vermindert Eisen und andere Mikronährstoffe aufnehmen kann, kommt es häufig zu einer Blutarmut. Man fühlt sich schlapp und antriebslos. Kinder leiden an Wachstumsstörungen, ältere Menschen an Osteoporose. Es können psychische Probleme und weitere Gesundheitsbeschwerden dazukommen.

«D’REGION»: Gibt es auch leichtere Fälle, bei denen die Betroffenen von ihrer Krankheit kaum etwas merken?
Dr. Bauer: Die meisten Zöliakiepatien­ten haben einen leichten Verlauf mit nur wenigen Symptomen ohne das Vollbild der Krankheit. Manchmal führt ein Eisenmangel als einziges Symptom zur Diagnose einer Zöliakie. In schweren Fällen fangen die Probleme bei Kleinkindern mit dem ersten Getreidebrei an. Häufiger bricht die Krankheit aber erst im Lauf des Lebens aus. Hauptursache ist eine erbliche Veranlagung. Dazu kommen nicht exakt definierte auslösende Faktoren. Betroffen sind weit mehr Frauen als Männer. In nördlichen Ländern ist Zöliakie häufiger als in südlichen.

«D’REGION»: Was kann sich der Laie unter Gluten vorstellen?
Verena Wyss: Gluten ist ein Stoffgemisch aus Eiweissen. Es kommt im Samen einiger Getreidearten wie Weizen, Dinkel, Gersten und Roggen vor. Gluten speichert im Getreidekorn die Aufbaueiweisse, die das Pflänzchen zum Wachsen braucht. Das Kleber­eiweiss ermöglicht erst, dass aus den verschiedenen Getreidemehlen ein elas­tischer Teig hergestellt werden kann. Gluten ist ausser in Brot, Gebäck und  Teigwaren in vielen anderen Nahrungsmitteln enthalten. Beispiele sind Bier, Bierhefe, Bulgur, Couscous, Malz und Malzextrakt sowie Oblaten und Hostien. Hingegen  können Mais, Reis, Hirse oder Buchweizen bedenkenlos konsumiert werden – ebenso Kartoffeln, Gemüse, Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier und Sojaprodukte.

«D’REGION»: Wie sieht es bezüglich Hafer aus?
Dr. Bauer: Hafer wird von vielen Zölia­kiepatienten vertragen. Wir empfehlen eine Höchstmenge von 25 Gramm pro Tag für Kinder und 50 Gramm für Erwachsene. Allerdings ist handelsüblicher Hafer meist mit kleinen Mengen von Weizen «verunreinigt» – wegen der Verarbeitung auf den gleichen Maschinen. Es wird deshalb empfohlen, ausschliesslich besonders für Zöliakiepatienten hergestellten Hafer zu konsumieren. Eine kleine Zahl von Zöliakiepatienten reagiert allerdings auch auf Hafer beziehungsweise auf das darin enthaltene Avenin.

«D’REGION»: Wie erkennt der Laie glutenfreie Lebensmittel?
Verena Wyss: Sie sind mit einem Logo gekennzeichnet. Glutenfrei bedeutet, dass sie höchstens 20 mg/kg Gluten enthalten, was für Zöliakiepatienten bedenkenlos ist. Mit dem Zusatz «sehr geringer Glutengehalt» sind Lebensmittel beschrieben, die nicht mehr als 100 mg/kg Gluten enthalten. Seit einem Jahr müssen alle glutenhaltigen Inhaltsstoffe von Lebensmitteln in der Zutatenliste hervorgehoben werden.

«D’REGION»: Viele Leute schwören trotz bester Glutenverträglichkeit auf eine glutenfreie Diät, weil das offenbar «in» ist. Ihr Kommentar dazu?
Verena Wyss: Das freut vor allem die Nahrungsmittelindustrie, weil sie den Markt beinahe täglich mit neuen glutenfreien Produkten beliefert – ein Milliardengeschäft. Wer aus freien Stücken auf Gluten verzichtet, setzt sich einer unnötig einseitigen Ernährung aus. Weizenanteile finden sich in vielen Nahrungsmitteln: Brot, Teigwaren, Süssigkeiten, Bier, Saucen, Gewürzen – sogar in Zahnpasten. Weizen und andere glutenhaltige Getriedearten zu vermeiden, ist aufwendig und teuer. In der Schweiz geht man von Mehrkosten von 200 Franken pro Monat aus. Positive Effekte einer glutenfreien Diät sind gelegentlich aber auch bei Nicht-Zölia­kiebetroffenen möglich. Eine Ernährung frei von Gluten ist jedoch keine sinnvolle Gewichtsreduktionsdiät.

«D’REGION»: Bezeichnet man Krankheiten, die offensichtlich mit dem Konsum von Weizen zusammenhängen, immer und generell als Zöliakie?
Dr. Bauer: In den letzten Jahren wird vor allem in der Laienpresse viel über die «Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität» geschrieben. Diese manifestiert sich mit ähnlichen Beschwerden wie die Zöliakie. Die Dünndarmschleimhaut zeigt jedoch keine entzündliche Schädigung, und es finden sich im Blut nicht die typischen Antikörper. Die Krankheit ist nicht exakt definiert, und eine Diagnose ist nur durch Auslassversuch und Reexposition unter Anleitung einer professionellen Diätberatung möglich. Weizeneiweisse sind auch eine geläufige Ursache für eine Nahrungsmittelallergie beim Kind, die sich im Verlauf meist verliert. Weizenallergien beim Erwachsenen sind sehr selten.

«D’REGION»: Wie werden die Beschwerden ausgelöst?
Dr. Bauer: Bestimmte Eiweisse im Gluten können im Dünndarm nicht vollständig verdaut werden. Diese Eiweissbruchstücke dringen durch die Deckzellschicht in die Darmwand und stimulieren bei entsprechender Veranlagung das Immunsystem. Dadurch entwickelt sich eine chronische Darmentzündung. Dabei wird die Innenseite des Dünndarms angegriffen. Die Darmzotten bilden sich zurück, weshalb der Körper Eisen und andere Mineralien sowie Vitamine und Spurenelemente nur noch schlecht aufnehmen kann. Mangelerscheinungen sind die Folge. Besonders Eisenmangel und dadurch bedingte Blutarmut sind häufig. Es ist oft die damit verbundene Müdigkeit, die Patienten zum Arzt führt.

«D’REGION»: Was unternimmt da­nach der Hausarzt?
Dr. Bauer: Er macht einen Bluttest. Stellt er dabei Zöliakie-Antikörper fest, folgt als nächstes eine Untersuchung durch den Magen-Darm-Spezialisten, also beispielsweise hier am Spital Emmental. Bei einer Magenspiegelung werden dem Zwölffinger- und dem oberen Dünndarm Gewebeproben entnommen. Im Falle einer Zöliakie finden sich eine typische Entzündung in der oberflächlichen Schleimhaut und eine Abflachung der Darmzotten.

«D’REGION»: Bei positivem Befund ist dies für die Betroffenen dann negativ. Was erwartet sie?
Dr. Bauer: Es bedeutet, dass die betroffene Person eine lebenslange strikte glutenfreie Diät einhalten muss. Teilweise reagieren Zöliakiepatienten schon auf kleinste Mengen von Gluten mit heftigen Symptomen. Zudem ist das Risiko für weitere Autoimmunkrankheiten erhöht. Dazu gehören etwa Diabetes Mellitus Typ 1, Schilddrüsen-Erkrankungen oder Hautkrankheiten. Auch das Krebsrisiko ist deutlich erhöht – etwa  für Lymphdrüsen-, Dünndarm- und Speiseröhrenkrebs.

«D’REGION»: Ist Zöliakie heilbar?
Verena Wyss: Nein. Immerhin erholt sich die Darmschleimhaut bei glutenfreier Ernährung  vollständig. Vitamine, Spurenelemente und Mineralien werden wieder aufgenommen, das Gewicht  des Patienten normalisiert sich, und sein Zustand verbessert sich generell.

«D’REGION»: Wer betreut den Patienten bei dieser radikalen Umstellung der Ernährung?
Verena Wyss: Im Spital Emmental in Burgdorf bieten wir eine professionelle Ernährungsberatung an. Dabei geht es nicht nur darum, welche Nahrungsmittel ab jetzt tabu sind, sondern auch um die Organisation des Alltags: Wo bekommt man glutenfreie Nahrungsmittel? Wie verhält man sich im Restaurant oder im Schullager? Von welchen gesetzlichen Bestimmungen kann man profitieren? Wo erhält man weitere Unterstützung? Es geht auch darum, die Patienten in ihrer Situation zu ermutigen. Eines ist sicher: Problemlos und ohne einschneidende Veränderungen ist Zöliakie nicht zu bewältigen.

Zu den Personen
Dr. med. Stefan Bauer ist Leitender Arzt an der Klinik für Innere Medizin am Spital Emmental. Sein Fachgebiet ist die Gastroenterologie, das heisst, er ist spezialisiert auf Magen-Darm-Heilkunde. Er arbeitet seit bald 18 Jahren am Spital Emmental und wohnt mit seiner Familie in Burgdorf.
Verena Wyss ist seit 18 Jahren Leiterin Ernährungsberatung am Spital Emmental. Sie ist verheiratet und wohnt in Burgdorf.

Hans Mathys / Mitarbeit Thomas Uhland


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