Das Fest der Slam-Poeten Europas

| Di, 01. Dez. 2015

BURGDORF: Der in Burgdorf aufgewachsene Slam-Poet Remo Zumstein stellte sich einer speziellen Herausforderung: Als Vize-Schweizermeister durfte er sein Heimatland in Estland an der kleinsten Europameisterschaft vertreten und mass sich dort mit Gleichgesinnten aus 14 anderen Ländern. red

Die schmalen Gassen sind so un­eben gepflastert, dass die Fusssohlen leicht schmerzen, als ich an jenem Mittwochabend eine Viertelstunde nach meiner Ankunft im Stadtzentrum Tallinns vor einer verglasten Türe stehe, die die Aufschrift «Sinilind» ziert – hier ist es. Ich merke, wie Erleichterung und Anspannung gegeneinander ankämpfen: Wenn ich dieses Café, dem laut den spärlichen Angaben, die ich besitze, ein Clubraum angeschlossen sein müsste, betrete, dann starten sie für mich, die Tage der Europameisterschaft im Poetry-Slam.

Aufwärmrunde in der Hauptstadt
Zögerlichen Schrittes durchquere ich spärlich möblierte Caféräume, bis ich aus einem Korridor eine verstärkte Stimme höre und mein Blick auf einige Reihen konzentriert lauschenden Publikums fällt. Während ich mich so unauffällig wie möglich in die hintersten Reihen begebe und meinen Rucksack ablege, versuche ich zu eruieren, was ich von der Bühne her höre: Ist dieser melodiöse Mix aus Vokalen nun Estnisch? Bis zur Pause steigen Künstler aus Italien, Tschechien, Österreich und Finnland auf die Bühne – sie werden mit Namen angekündigt, die ich zum Teil von You­tube-­Videos her kenne oder zumindest schon gelesen habe. Nach der ersten Hälfte dieser Warm-up-Show, bei der wir die Gelegenheit haben, unsere Texte vor estnischem Publikum schon vor den eigentlichen Ausscheidungen zu performen, melde ich mich bei den Organisatoren als «Remo – from Switzerland». Wenig später bin ich an der Reihe – wie für die anderen Poeten, die ich in der Zwischenzeit kennengelernt habe, fühlt es sich im ersten Moment befremdlich an, unweit von Russland einen Text in der Muttersprache, in meinem Fall Berndeutsch, vorzutragen. Doch an dieser Meisterschaft ist das Fremde genau der Punkt.

Klassenfahrt in die Universitätsstadt
Als wir uns am Donnerstag gegen Mittag nach einem reichhaltigen Frühstück in einen gemieteten Bus quetschen, weiss ich zwar noch längst nicht alle Namen auswendig, bringe aber jedes Gesicht mit einem Teilnehmerland in Verbindung: Den gross gewachsenen Herrn mit Kurzhaarschnitt, Anfang 40, ordne ich Belgien zu, der ebenso bärtige wie hagere Mann, der in meinem Alter sein könnte, ist aus Italien angereist, der dunkelhäutige Poet mit den Rastas, dem man seine Freude schon von Weitem ansieht, vertritt Frankreich. Fast zweieinhalb Stunden sehen wir links und rechts nichts als Wälder und vereinzelte Häuser vorbeiziehen, bis wir in Tartu, der mit knapp 100 000 Einwohnern zweitgrössten Stadt Estlands, in einer Studentenunterkunft einchecken. Obwohl erst 16 Uhr ist, bricht bereits die Nacht herein, als uns ein Taxi zur Location chauffiert.

Wohlfühlwettkampf im Wohnzimmer
Beim Betreten des «Vilde»-Gebäudes, das ein Café im ersten und ein Restaurant im zweiten Stock beherbergt, stellt sich für uns unvermittelt die Frage, ob wir die richtige Adresse erwischt haben, sind doch lediglich ein paar Dutzend Sitzgelegenheiten vorhanden: Übergrosse, altmodische Sessel sind um Holztischchen angeordnet. Mittags ist das Café für die Bevölkerung jeweils ein beliebter Treffpunkt – aber wie soll hier eine Europameisterschaft stattfinden? Als wir später zurückkehren, haben sich etwa 30 Interessierte eingefunden, die andere Hälfte des Publikums machen das Organisations­komitee, das Moderationsduo und die Auftretenden mit Begleitung aus. Langsam wird mir klar, dass in Estland selbst eine EM nur einen Bruchteil der Massen anzieht, die in der Schweiz in die Veranstaltungsorte strömen, wenn Poetry-Slam auf dem Programm steht. Die warmherzige Stimmung, die sich durch die intime Atmosphäre ergibt, überträgt sich schnell auf die Poeten der ersten beiden Vorrunden: Jeder Text wird durch das Publikum und die anderen Bewerber gefeiert, die Vielfalt an Sprachen, Themen und Stilen steht im Vordergrund – auch wenn jede/r hofft, noch eine Runde weiterzukommen. Während andere den Auftritt in ihrer Muttersprache bestreiten, performe ich englische Texte, die auf einer Leinwand auf Estnisch übersetzt eingeblendet werden. Zusammen mit den Teilnehmern aus Irland, Spanien, Lettland und Belgien überstehe ich meine Vorrunde und schaffe den Sprung ins Halbfinale.

Ein Finale auf eindrücklichem Niveau
Auch die Auswahl der Lokalität für die beiden entscheidenden Runden am Samstag zeigt: Die Veranstalter haben gar nicht erst mit einem grösseren Publikumsaufmarsch gerechnet, denn mit gut 70 Anwesenden beim Halbfinal und Final ist der Raum ziemlich voll. Von den ursprünglich 15 Teilnehmenden haben es 9 ins Halbfinale geschafft. Leider bin ich bereits als Zweiter an der Reihe und erhalte «nur» die sechsthöchste Bewertung – und das Reglement sieht vor, dass nur die besten vier ins Finale einziehen. Dennoch: Die Vorfreude auf die letzten Texte und die Spannung überwiegen für uns alle klar. Als die Jury den Portugiesen Nuno Garcia vor dem Belgier Simon Raket zum Sieger erklärt, wird dieser Entscheid denn auch von allen Anwesenden bejubelt.

Ein Fazit
Vieles bleibt als ungewohnt und einmalig in Erinnerung: das Zeitlimit von drei (statt wie in der Schweiz sechs) Minuten, anderssprachige Mitbewerber und die Performances auf Englisch mit Estnisch-Übersetzungen. Die Gelegenheit, mich als Vizeschweizermeister mit den «Champs» Europas über den Stellenwert von Poetry-Slams in ihren Ländern, über Poesie, Humor, Themen, Stil und Performance auszutauschen, war jedenfalls eine Bereicherung sondergleichen. Auf der anderen Seite macht es auch demütig festzustellen, dass es längst keine Selbstverständlichkeit ist, in seinem Land die Voraussetzungen vorzufinden, die es einem Bühnendichter ermöglichen, mit seiner Kunst und Leidenschaft Geld zu verdienen.

Remo Zumstein

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