Pilotprojekt APH-Schlossmatt-Schule: «Rezäpt für z’Läbe»
13.12.2012 Aktuell, Burgdorf, Bildung / SchuleKlassenlehrer Martin Kuster hat die zehn Mädchen und neun Knaben der fünften Primarstufe des Schlossmatt-Schulhauses gruppenweise den sieben Senioren aus dem direkt daneben liegenden APH (Alters- und Pflegeheim) zugelost. Für das vierte Treffen machen sich die Schulklasse, Lehrer Kuster, die Schulleiterin Ursula Bürki sowie Maria Widmer, dipl. Aktivierungsfachfrau HF (in Ausbildung), gemeinsam auf den Weg, um die Frauen und Männer von nebenan abzuholen. Bis auf eine Person am Rollator werden die anderen – alle warm angezogen – in ihren Rollstühlen in die Schule geschoben, wo die Kinder ihnen aus den Jacken und Mänteln helfen und alle gemeinsam ein Lied singen: «Ewigi Liebi». Dann teilen sich die Gruppen wie gewohnt auf und die Gespräche in der Doppelstunde beginnen, wobei Mädchen und Knaben eifrig mitschreiben.
Generationenprojekt
Die Idee zu diesem Pilotprojekt stammt von Maria Widmer, die im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Aktivierungsfachfrau steht und die eine Projektarbeit für ihren Abschluss durchführen muss. «Mir war sofort klar, dass ich ein Generationenprojekt starten werde», sagt sie. «Ich bin in einem Mehrgenerationshaushalt aufgewachsen und sehr überzeugt von den Generationen-Beziehungen und deren Vorteilen. Die möglichen Herausforderungen sind mir selbstverständlich bekannt. Trotzdem profitieren alle Seiten in grossem Masse.»
Widmer verweist auf die vorbehaltlose Unterstützung der Tagesheim-Leiterin im APH, wo sie ihre Ausbildung absolviert. «Trotzdem habe ich mich entschlossen, stationäre Heimbewohner und keine Tagesbesucher für dieses Projekt zu begeistern. Die Männer und Frauen in Alters- bzw. Pflegeheimen haben nachweislich bedeutend weniger Kontakte zu Kindern als Senioren, die nur im Tagesheim zu Besuch sind. Unser Projekt, das von Ende der Herbstferien bis zu den Frühlingsferien reicht, ermöglicht den sieben teilnehmenden Seniorinnen und Senioren nun einen regelmässigen Kontakt mit ‹ihren› Schulkindern, was beide Seiten sehr schätzen und worauf sie sich tagelang freuen.»
In Sichtweite
Maria Widmer bezeichnet die unmittelbare Nähe (100 Meter Distanz) von Kindergarten, Kindertagesstätte und Schulhaus zum APH als ideal für ihr Projekt. Nach ihrer Anfrage bei der Schulleiterin Ursula Bürki habe sie diese an Lehrer Kuster verwiesen, der sich sofort begeistern liess. Zusammen haben sie das Projekt mit dem Namen «Rezäpt für z’Läbe» ausgearbeitet und Lebensthemen zusammengestellt. «Die Heimbewohner konnten während ihres langen Lebens sehr viele Erfahrungen sammeln, die sie in zwanglosen Gesprächen an die Zehn- bis Elfjährigen weitergeben können, die alles aufschreiben. Das sind zweifellos ‹Rezepte fürs Leben›, die von der Klasse zu Papier gebracht und zu Ostern als kleines Büchlein druckfrisch vorgelegt werden», fasst Widmer das bis heute im Kanton Bern einzigartige Pilotprojekt zusammen.
Zur Sprache kommen Themen wie Liebe / Beziehungen, Verlust / Schweres, Gesundheit, Familie, Beruf / Arbeit, Freizeit, Glaube, Hochs und Tiefs.
Durch Rückblicke nach vorne sehen
Durch die Gespräche kommen bei den Heimbewohnern Erinnerungen an ihre verschiedenen Lebensphasen hoch, an die eigene Familie, den Beruf, Hobbys, Reisen usw. «Die Beziehungsarbeit ist für beide Seiten Gewinn bringend», fasst Widmer zusammen und betont: «Generativität statt Stagnation».
Hier handelt es sich jedoch nicht um die sogenannte «zeitgemässe generative Ethik», die sich weitgehend auf die materielle Versorgung der nächsten Generation beschränkt. Die in sieben Gruppen praktizierte kollektive Generativität der Klasse 5F bedeutet, Liebe in die Zukunft zu tragen, sich um zukünftige Generationen zu kümmern, soziales Engagement, Verantwortung, Rücksichtnahme auf Ältere, Schwächere, Geduld zu üben und andere zu verstehen. Die Vernachlässigung der eigenen Person im Dienste anderer wird den Jungen jedoch als «auch nicht ideal» nähergebracht. Die Kinder lernen, dass Stagnation das Gegenteil von Generativität bedeutet: nur um sich selbst kümmern und sonst niemanden. Das führt zur Ablehnung anderer Personen, die den Betreffenden ihrerseits ablehnen.
Fähigkeiten zur Fürsorge
Positive Beispiele einer kollektiven Generativität, die sich dem langfristigen Erhalt der Lebensgrundlagen und Handlungsspielräume verschrieben hat, bedeuten beispielsweise die Bildung oder der Erhalt von Kulturschätzen, die von Jugendlichen keinesfalls aus Übermut beschädigt werden dürfen. Aber auch im subjektiven Erleben bringt generatives Verhalten persönliche Befriedigung, steigert das Selbstvertrauen und hält aktiv und geistig beweglich.
Diese Erklärungen sind für Zehn- bis Elfjährige noch schwer fassbar, hingegen lesen sie in ihren Projektunterlagen: Wird die Phase Generativität versus Stagnation erfolgreich abgeschlossen, hat man die Fähigkeit zur Fürsorge erlangt, ohne sich selbst aus den Augen zu verlieren. Der erfolgreiche Abschluss führt zu Integrität, das heisst das gelebte Leben annehmen mit allen Hochs und Tiefs.
Weihnachtsgeschenk für ihre Kinder
Sowohl von den Kindern als auch den Senioren des APH kommen ausschliesslich positive Rückmeldungen zu Widmer: «Die Klasse gibt sich extrem viel Mühe, sie hören zu, fragen nach, sind sehr einfühlsam, höflich, hilfsbereit und sehr dankbar für die vielen Geschichten. Die alten Frauen und Männer geniessen es, endlich wieder Gesprächspartner zu haben, im Mittelpunkt zu sitzen (niemand steht hier!) und Dinge zu erzählen, die offensichtlich hörenswert sind. Nicht nur die Schüler, auch die APH-Bewohner zählen die Tage bis zum nächsten Treffen. Eine Frau arbeitet bereits an einer Handarbeit für ihre Gruppenkinder», verrät Widmer. Wen es betrifft und was entsteht, will sie nicht sagen.
In regelmässigen Abständen trifft sich Widmer mit den APH-Bewohnerinnen und -Bewohnern, um mit ihnen über ihre «Schulstunden» zu plaudern: «So kann ich sicherstellen, dass sich Letztere wohlfühlen und gut begleitet werden.»
Gewaltprävention
Klassenlehrer Kuster bezeichnet das Mehrgenerationen-Projekt als «ureigene Gewaltpräventation». Es ist bekannt, dass sinngebender Unterricht, in dem die Schulkinder eine positive Wertschätzung erfahren und soziale Umgangsformen lernen, das A und O der Gewaltprävention ist. «Solcher Unterricht verhindert Gewaltformen in der Schule, baut das Selbstwertgefühl der Kinder auf, sie fühlen sich angenommen, geschätzt, beachtet. Sobald die Schüler das erfassen, erübrigt sich Gewalt als Weg zur Kenntnisnahme, zur Anerkennung. Sinngebendes Handeln bedeutet auch Eingehen auf die Bedürfnisse anderer, beginnend mit zuhören, mitfühlen bis zu Hilfestellungen und aktivem Beistand», erklärt Kuster. «Meine Schulklasse merkt, dass die Senioren sie schätzen, das Zusammensein mit ihnen als Gruppe freut sie. Das stärkt die Sozialkompetenz aller Kinder, gibt Selbstvertrauen und verhindert, sich Anerkennung auf negative Art zu holen. Wir legen die Basis, um diese Kinder zu stärken.»
Der Altersunterschied zwischen Senioren und Schülerinnen beträgt rund 70 Jahre, das heisst im Schnitt zwei Generationen. «Die Jungen hören viele interessante, unbekannte, überraschende Geschichten. Sie sind bereit, Ratschläge und Hinweise entgegenzunehmen, was bei Eltern und Lehrern bisweilen nicht widerspruchslos geschieht», so Kuster.
Gute Ratschläge
Die fast 80-jährige Hermine Jau bekräftigt, dass ihr die Treffen in der Schule grosse Freude bereiten. Sie hat Kinder gern und würde ohne Weiteres noch mehr Zeit mit diesen verbringen, «weil es so schön ist». Sie beantwortet gerne die vielen Fragen, erzählt von früher, von ihrer Familie in Kärnten (Österreich), bringt alte Fotos mit und gibt viele Ratschläge, was die zwei Mädchen Julia Fuhrer und Celeida Kauz sowie Tiziano Bähler im Leben machen oder auf alle Fälle vermeiden sollen. Hermine Jau kam als 19-Jährige auf einen Schweizer Bauernhof, musste hart arbeiten, hatte verschiedene Bekanntschaften und heiratete nach fünfjährigen Kennenlernen ihren späteren Ehemann. «Nehmt nicht den Erstbesten», rät sie ihren Kindern. Diese nicken überzeugt und erklären eines nach dem anderen: «Ich werde genau hinschauen, wen ich einmal heirate. Auf keinen Fall kurz nach dem Kennenlernen, davor hat Hermine gewarnt.» Gerti Binz