«Natürlich erlebt man Situationen, die einen länger beschäftigen»

  16.09.2020 Aktuell, Foto, Burgdorf, Gesellschaft, Region

Die anspruchsvolle und komplexe Pflege auf der Intensivstation eines Spitals erfordert ein hohes Mass an Fachwissen, Sozialkompetenz und Fingerspit­zengefühl im Umgang mit Patientinnen und Patienten sowie den Angehörigen. Schwierige, hektische und kritische Situationen, in denen überlegtes Handeln gefragt ist, gehören immer wieder zum Arbeitsalltag der Expertinnen und Experten des Nachdiplomstudiengangs HF Intensivpflege. Dennoch fühlt sich Corinne Scheidegger, Expertin Intensivpflege der Intensivstation des Spitals Emmental in Burgdorf, keineswegs permanent unter Druck oder Anspannung. «Wäre dem so, hätte ich definitiv den falschen Beruf gewählt», erklärt die 31-Jährige gegenüber der Zeitung «D’REGION». Im Gespräch erläutert sie, was sie an ihrer Arbeit besonders schätzt: «Ich empfinde die Tätigkeit auf der Intensivstation, die mich sowohl intellektuell als auch körperlich fordert, als äusserst abwechslungsreich. Vor Schichtbeginn weiss man oft nicht, was in den nächsten Stunden auf einen zukommt. Das verlangt Flexibilität und Beweglichkeit, macht den Arbeitsalltag aber auch äusserst spannend und dynamisch. Ich schätze insbesondere die menschlichen Kontakte innerhalb des Teams, aber auch die Betreuung und Begleitung der Patienten und Angehörigen. Hierbei lege ich grossen Wert auf eine offene und transparente Kommunikation sowie einen empathischen, einfühlsamen Umgang. Jede Patientin und jeder Patient hat individuelle, unterschiedliche Bedürfnisse.»

Herausfordernde und belastende Situationen
Corinne Scheidegger war zunächst je zweieinhalb Jahre als Pflegefachfrau im Spital in Langnau und im Inselspital Bern tätig, bevor sie in den Jahren 2017 bis 2019 die Weiterbildung Intensivpflege absolvierte. «Während der Ausbildung lernten wir, mit der grossen Verantwortung, die der Beruf mit sich bringt, umzugehen und in allen Situationen kompetent und angemessen zu reagieren. Mit zunehmender Praxiserfahrung wächst natürlich auch die Sicherheit. Zudem arbeitet man im Team und steht in engem und permanentem Austausch mit den Ärztinnen und Ärzten. Die Vorgehensweise bei Patientinnen und Patienten wird gemeinsam besprochen und im Nachhinein analysiert. Es findet ein permanenter Lernprozess statt.» Die Intensivstation in Burgdorf umfasst sechs Betten, kann aber situativ – je nach Bedarf – erweitert werden. Die Dimensionen sind natürlich wesentlich kleiner als bei Universitätsspitälern. Dementsprechend ruhiger verläuft auch der Arbeitsalltag. Dennoch sieht sich auch Corinne Scheidegger immer wieder mit herausfordernden und emotional belas­tenden Situationen konfrontiert – mit Fällen, in denen es um Leben oder Tod geht und bei denen Entscheide innerhalb von Sekundenbruchteilen gefällt werden müssen; mit tragischen Schicksalsschlägen, etwa wenn sich abzeichnet, dass eine schwer kranke Person sterben wird. Um nach Feierabend auf andere Gedanken zu kommen, treibt Corinne Scheidegger, die in Boll lebt, viel Sport und trifft sich mit Freundinnen und Freunden. «Ich persönlich kann in meiner Freizeit relativ gut abschalten. Aber natürlich ergeben sich manchmal Situationen, die einen länger beschäftigen. Dies ist aber nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.»

«Angst vor COVID-19 habe ich nicht, aber Respekt»
Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie rückte die Arbeit auf den Intensivpflegestationen ins Scheinwerferlicht der Medien. Die erschreckenden Aufnahmen, etwa aus Spitälern in Nord­italien, mit Erkrankten, die auf dem Bauch liegen und an Beatmungsgeräte angeschlossen sind, schockierten die Öffentlichkeit und zeigten, wie gefährlich das neuartige Coronavirus sein kann. Auch Corinne Scheidegger hat diese Bilder natürlich gesehen. «Das Virus SARS-CoV-2 war in dieser Form neu und daher vieles noch unbekannt, was die Pflege von COVID-19-Patientinnen und -Patienten anfangs erschwerte. Auch in Bezug auf die Übertragung des Virus auf andere Personen existierten zu Beginn der Pandemie unterschiedliche Meinungen. Dies führte zu einer gewissen Unsicherheit. Das Spital Emmental unternahm aber sofort alle notwendigen Schritte, um eine Zunahme an COVID-19-Patientinnen und -Patienten bewältigen zu können und für eine ähnliche Situation wie in Bergamo bestmöglich gewappnet zu sein. Glücklicherweise blieben die Fallzahlen bisher sehr tief. Wir sind nun gut gerüstet und auf alle Eventualitäten vorbereitet.» Der Arbeitsalltag hat sich für Corinne Scheidegger kaum verändert, da die Hygienemassnahmen auf der Intensivstation bereits vor Corona höchsten Anforderungen entsprechen mussten. An das konsequente Tragen der Maske hat sich die Expertin Intensivpflege rasch gewöhnt. Auch im Privatleben bemüht sie sich, alle Regeln und Empfehlungen so gut wie möglich umzusetzen. «Angst vor der Krankheit empfinde ich nicht, aber einen gesunden Respekt», betont sie.
Einen grossen Einschnitt während der ausserordentlichen Lage stellte allerdings das strikte Besuchsverbot dar, das schweizweit für alle Spitäler sowie sämtliche Altersheime galt. «Dies war natürlich für die Betroffenen alles andere als einfach. Auf der Intensivstation versuchten wir den Patientinnen und Patienten deshalb, die Kommunikation mit den Angehörigen via digitale Kanäle – mithilfe eines Tablets – zu
ermöglichen und unterstützten sie auch beim Handling.»

«Sämtliche Berufsfelder verdienen Wertschätzung»
Während des Lockdowns erhielt das Pflegepersonal viel Anerkennung – auch in der Schweiz wurde die Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger an vorderster Front von der Bevölkerung mit Applaus honoriert. In den Schlagzeilen der Zeitungen war von den Heldinnen und Helden des Alltags die Rede. «Eine Heldin bin ich sicherlich nicht», lacht Scheidegger. «Dieser Ausdruck ist viel zu melodramatisch. Ich erledige meinen Job – wie alle anderen auch – und setze das um, was ich in der Ausbildung gelernt habe. Natürlich ist es schön, wenn die Arbeit, die man leistet, gewürdigt wird. Sämtliche Berufsfelder verdienen Wertschätzung – sei es das Putzteam oder der Maschinenbauer, welcher das technische Equipment für die Spitäler herstellt. Ich übe meine Tätigkeit allerdings nicht aus, um Lob zu erhalten, sondern weil es mir Freude bereitet, mit Menschen zu arbeiten.» Scheidegger zeigt sich allerdings überzeugt, dass der Pflegeberuf in Zukunft attraktiver gestaltet werden muss, um den steigenden Personalbedarf in der Schweiz langfristig abzudecken. «Hier ist sicherlich Handlungsbedarf vorhanden. Viel zu viele Fachkräfte steigen nach wenigen Jahren aus dem Beruf aus. Oberstes Ziel muss letztlich sein, dass die Pflege den individuellen Bedürfnissen jeder Patientin und jedes Patienten gerecht wird.»
Trotz wieder ansteigender Infektionen mit dem Coronavirus fürchtet sich Corinne Scheidegger nicht vor einer zweiten Welle. «Wir müssen uns aber alle bemühen, die Fallzahlen weiterhin möglichst tief zu halten. Vermutlich wird uns COVID-19 auch noch lange beschäftigen. Sollte es zu einer neuen Welle kommen, werde ich meine Arbeit auf der Intensivstation unverändert so gut und sorgfältig wie irgend möglich ausüben.»

Markus Hofer


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