Wenn der Sammeltrieb erwacht

  10.03.2021 Aktuell, Fraubrunnen, Kultur, Gesellschaft, Region

Der Sammelleidenschaft sind kaum Grenzen gesetzt. Egal ob Briefmarken, Miniaturzüge, Steine oder Muscheln – Menschen sammeln für ihr Leben gern. Schweizerinnen und Schweizer eines gewissen Alters mögen sich bestimmt an ein regelrechtes Sammelfieber der 90er-Jahre erinnern: das Sammeln der bunten Kaffeerahmdeckeli. Roland Lüthi betreibt dieses Hobby seit nun über 30 Jahren und kennt sich in dieser Welt aus wie fast kein Zweiter. Er gibt Einblick in ein faszinierendes, mittlerweile aber beinahe in Vergessenheit geratenes Hobby.

Ein ungewollter Start ins Hobby
Vom ersten Kontakt bis zur heutigen Leidenschaft verging eine längere Zeit. Roland Lüthi schildert seine erste Begegnung mit den abgepackten Kaffeerahmportionen: «Als Emmentaler Junge kannte ich die Milch nur frisch von der Kuh. Bei einem Ausflug auf den Bürgenstock 1983 haben meine Eltern einen Kaffee getrunken und dazu gabs Kaffeerahm. Ich war irritiert: ‹Warum war diese Milch so klein verpackt?›» Etwas später schmiedete Lüthi dann mit dem eingepackten Kaffeerahmdeckeli einen Plan: «Ich komme noch aus einer Generation, in der man dem Gotti oder dem Götti zu Weihnachten etwas Selbstgemachtes geschenkt hat. Meine Idee war es, eine alte Waschpulverbox mit schwarzem Papier einzufassen und zu bekleben.»
Um an genügend Kaffeerahmdeckeli für den selbstgemachten Papierkorb zu kommen, bat er seinen Bekanntenkreis, ihm alle Deckeli zukommen zu lassen. Auch in den Ferien fragte er bei Angestellten, ob man ihm nicht die übriggebliebenen Kaffeerähmli geben könnte. «So erhielt ich Couverts voll mit Deckeli», erzählt der heute 47-Jährige. Doch von der Idee, diese Deckeli zu sammeln, war Roland Lüthi noch weit entfernt. Das Ziel war immer noch der selbstgemachte Papierkorb. Als Roland Lüthi über längere Zeit krank war, brachte ihm ein Freund die Hausaufgaben und entdeckte dabei den Kübel voller Kaffeerahmdeckeli. Der Schulfreund riet ihm sofort, diese Deckeli doch zu sammeln. «Nein, ich sammle die sicher nicht», entgegnete Lüthi damals. Kurz darauf brachte ihm dieser Freund einen Deckelikatalog vorbei. Beim Blättern bemerkte Roland Lüthi, wie breit seine «ungewollte» Sammlung bereits aufgestellt war: «Ich habe angefangen, die Deckeli in Mäppli einzuordnen. Da hat es mich langsam in den Bann gezogen.»

Überraschung bei der Post
Um an neue Kaffeerahmdeckeli zu kommen, inserierte Roland Lüthi in der Kleinanzeigen-Zeitschrift «Fundgrueb». Als er keine Antwort erhielt, inserierte er munter weiter. Irgendwann meldete sich der «Pöstler» bei seinem Vater: «Dein Sohn kann die ganzen Päckli also selber abholen.» Die Inserate wurden – mit etwas Verspätung – also doch noch abgedruckt und pro Inserat trafen teilweise bis zu 60 Päckli und Schächteli ein. «Ich habe allen ein kleines Dankes­chärtli zurückgeschickt», so Lüthi. Die Idee mit dem selbstgemachten Papierkorb trat nun langsam in den Hintergrund. Der Sammeltrieb war erwacht. Roland Lüthi tauschte sich auch mit vielen anderen Menschen über die Kaffeerahmdeckeli aus, vorerst hauptsächlich über das Telefon. Das ging so weit, dass seine Eltern ihm einen eigenen Telefonanschluss im Zimmer einrichteten. «Damit sie auch mal in Ruhe telefonieren konnten», lacht Lüthi.

Die grosse Rettungsaktion
1990 hätte Roland Lüthi seine ganze Sammlung beinahe verloren. Ein wahres Schlüsselerlebnis, wie Roland Lüthi schildert. Nach dem Umzug in ein neues Haus nach Lützelflüh – bis zu diesem Zeitpunkt hatte er knapp vier Kübel mit Kaffeerahmdeckeli gefüllt – waren die Deckeli plötzlich unauffindbar. Es stellte sich heraus, dass seine Mutter die Kübel zur Entsorgungsstelle gebracht hatte. Roland Lüthi hatte nur einen Gedanken: «Das lasse ich mir nicht nehmen!» Und startete eine Rettungsaktion. «Das war matchentscheidend. Wenn ich das damals nicht gemacht hätte, hätte ich nun viel Gutes nicht», ist sich Roland Lüthi heute sicher. Die gefüllten Kübel waren zum Glück noch vor Ort und wurden sicher wieder nach Hause gebracht.

Das erste Tauschtreffen
Roland Lüthi erfuhr, dass der Verein Kaffee-Doppelcrème, der grösste Schweizer Kaffeerahmdeckeliverein, mehrmals im Jahr Tauschtreffen in der Markthalle Burgdorf veranstaltet – die ideale Gelegenheit, um die eigene Sammlung zu erweitern. Mit einer selbstgemachten Fehlliste und seinen überschüssigen Deckeli machte er sich auf zur Markthalle ... und war überwältig. Mit solchen Menschenmassen hatte er nicht gerechnet. Schon bald war er von einer Menschenmenge umgeben, die seine Deckeli studierte. Diese Erfahrung schlug ein: «Ich war richtig motiviert für das nächs­te Treffen.» Später nahm er regelmässig an den Tauschtreffen in Langnau teil, wo er unter die Fittiche des Organisatorenpaares Aeschbacher genommen wurde. Lüthi ist dafür dankbar: «Sie haben mich für die Szene sensibilisiert und mir auch gezeigt, dass nicht alle Deckeli gleich wertvoll sind.»

Zu viel des Guten
In den frühen 90er-Jahren erlebte die Kaffeerahmszene ihr goldenes Zeitalter. Zu Hoch-Zeiten verzeichnete der Club Kaffee-Doppelcrème mehrere Tausend Mitglieder. Doch wer schon einmal zu viel Kuchen gegessen oder – in diesem Fall vielleicht passender – zu viel Kaffee getrunken hat, der weiss, dass es durchaus auch zuviel des Guten geben kann. Die grossen Abfüllbetriebe brachten in immer kleineren Abständen neue Deckeli zur Veröffentlichung. Firmen begannen, eigene teure Sonderserien herauszugeben. Der Markt wurde regelrecht mit immer neuen Kaffee­rahmmotiven überschwemmt. In dieser Zeit erreichten auch die Preise Höchstwerte. Die wohl berühmteste Serie, die «Blick»-Reihe von Burra, erzielte gar fünfstellige Beträge. Für Roland Lüthi wurde der ganze Trubel zu viel: «Ich konnte nicht mehr mithalten und wollte aufhören zu sammeln. Alles war nur noch auf Profit ausgerichtet, das hat das Hobby fast zum Ersticken gebracht.» Doch da hatte Roland Lüthi die zündende Idee, um mehr Ruhe und Organisation in die Szene zu bringen: Ein professionelles Informationsorgan sollte der «Entschleunigung» der Kaffeerahmwelt dienen und mit allen Gerüchten à la «Ich habe aber gehört, dass ...» endgültig aufräumen. So wurde das Vereinsheftli «KaffeeRahmDeckeli-News» gegründet mit der Erstausgabe im Juni 1996. Selbst heute, fast 25 Jahre später, dient das Vereinsheft immer noch als aktuelles Informationsmittel – nun unter dem Namen «Crèminfo», zuletzt erschienen als Januar/Februar-Ausgabe 2021. Lüthi war im Prozess des Magazins stark involviert und verbrachte als Sekretär des Clubs viele Stunden damit, das Vereinsmagazin immer professioneller zu gestalten. «Ich habe eine Verpflichtung gegenüber dem Sammler verspürt. Es hat mir auch eine gute Kompetenz im IT-Bereich und persönliche Genugtuung gebracht», erzählt Lüthi. Bis zu 3000 Exemplare des Büchleins hat man in den 90er-Jahren verschickt. Erst als er Berufsleben und Hobbyleidenschaft nicht mehr unter einen Hut bringen konnte – so war er zeitweise als Geschäftsführer von Coop-Filialen tätig – gab er sein Amt als Sekretär ab.

Ein sterbendes Kulturgut
Die Zukunft des Hobbys sieht zurzeit aber nicht sehr rosig aus. Auch wenn der Club Kaffee-Doppelcrème 2019 zum vierten Mal in Folge mehr Ein- als Ausstiege verzeichnen konnte, sieht Roland Lüthi sein Lieblingshobby «zum Sterben verurteilt». Auch er selbst hatte in den 2000er-Jahren eine gewisse Distanz zum Hobby entwickelt. «Meine Frau war mir wichtiger als das Sammeln und hat mir gezeigt, dass es auch noch andere schöne Sachen im Leben gibt.» Nach einem Unfall hat er sich schliesslich erneut vertieft mit seinem Hobby befasst. Lüthi löste alle Deckeli ab und sortierte sie neu. Dabei entflammte seine Faszination für die farbigen Deckeli aufs Neue. Er entdeckte neue Besonderheiten und Merkmale, die die Deckeli einzigartig machten. Farbunterschiede, die Verschiedenheit der Folie, unterschiedliche Laschenarten ... das gleiche Motiv gibt es so in x-verschiedenen Varianten. Genau das macht die grosse Faszination für den 47-Jährigen aus. Die Deckeli sind nun zwar minutiös eingeordnet, doch wie viele Deckeli er besitzt, weiss Lüthi nicht. Die schiere Menge ist kaum noch überschaubar.
Roland Lüthi hat nun ein neues Mammutprojekt gestartet: Er möchte eine Internetplattform erstellen, welche das Wissen über Kaffeerahmdeckeli bündelt. «So was wie Wikipedia für Deckeli», wie Lüthi schildert. Ziel soll es sein, den Katalog zu digitalisieren und Vorlagenblätter zum Download bereitzustellen. Einige der Arbeiten sind bereits abgeschlossen, andere stehen noch in den Startlöchern, wie Lüthi berichtet. Doch warum die ganze Mühe? Roland Lüthi ist sich sicher, dass die Kaffee­rahmdeckeli eine Stellung als Schweizer Kulturgut verdient haben. Mit diesem Projekt möchte Lüthi die Kaffeerahmdeckeli für die Nachwelt festhalten. «Ich frage mich oft, was mit meiner Sammlung passieren wird. Ich möchte, dass sie für die Nachwelt bleibt.» Sein grösster Wunsch ist es, dass seine Sammlung eines Tages im Historischen Musem Bern ausgestellt wird. «Die Kaffeerähmli sind eine Schweizer Pionierleistung. Es wäre schade, wenn dieses Kulturgut einfach so verloren geht.» 

David Kocher


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