Was wäre, wenn... Utzenstorf einen Flugplatz hätte?

| Di, 08. Jun. 2021

UTZENSTORF: Direkt von Utzenstorf in die Ferien fliegen? Beinahe wäre der grösste Flughafen der Schweiz in der Region entstanden. zvg

Die Geschichte wurde schon wiederholt in verschiedenen Medien publiziert und sogar das Schweizer Fernsehen befasste sich bereits mit einer Reportage damit. Warum also sollte das Thema nochmals «aufgewärmt» und erneut aus der Versenkung hervorgeholt werden? Der Schreiber möchte es so erklären: «Ich wohne nicht unweit von Utzenstorf und spaziere oder fahre oft durch dieses schöne flache Bauernland. Von irgendwo her wurde mir eben die Geschichte über den ‹Schweizerischen Zentralflughafen› bei Utzenstorf zugetragen. Mein Interesse wurde geweckt und bald darauf nervte ich einige Leute aus meinem Umfeld mit meiner Fragerei zu diesem Projekt. Doch auch nach einigen Wochen war das Resultat dieser Nachforschungen eher dürftig. Ich stiess auf erstaunlich wenige präzise oder plausible Antworten und Erklärungen. Aber einige Hinweise führten mich zur Utzenstorferin Barbara Kummer, die über die Jahre ein regelrechtes Sammelsurium über den Grossflughafen zusammengetragen hatte und einige Teile gelegentlich auch als kleine Informationsausstellung der Bevölkerung näherbrachte.»
Was wäre, wenn diese aussergewöhnliche Idee verwirklicht worden wäre? Die ganze mittelländische Gegend weit um Utzenstorf hätte sich grundlegend anders entwickelt. Man kann sich dies am Beispiel vom schluss­endlich verwirklichten Flughafen Zürich-Kloten gut vorstellen. Heute zerschneiden zwar die Autobahn und die Bahn 2000 die Ebene und machen sich je nach Windverhältnissen akus­tisch bemerkbar, aber das Donnern von an- und abfliegenden Flugzeugen ist ausgeblieben. Auch die weiten Flächen und Teile des Waldes sind erhalten geblieben und wurden nicht gnadenlos überbaut.
Aber um 1942 lebte man in einer ganz anderen Situation. Es herrschte immer noch Krieg, wobei die Schweiz glücklicherweise grösstenteils verschont wurde. Das Mittelland galt damals als die Kornkammer der Schweiz und sicherte mit anderen Landwirtschaftsregionen die knapp gewordene Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Doch es gab eben auch Zukunftsvisionen. Das Eidgenössische Luftamt, heute Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL), hatte die Kantone aufgefordert, Pläne für einen Interkontinentalflughafen einzureichen. Eines der Argumente für den Auftrag war die Arbeitsbeschaffung in Zeiten der schwer gebremsten Wirtschaftssituation. Dass die Schweiz vor dem Krieg einmal die «Drehscheibe Europas» im Luftverkehr gewesen sei und die bestehenden Flugplätze den internationalen Bedingungen für Blindlandepisten nicht mehr genügen würden, untermauerte zudem das Anliegen der Befürworter des Flughafens.
Der Kanton, die Stadt Bern sowie die damalige Flugplatzgenossenschaft Bern bevorzugten das praktisch hindernisfreie Bauernland zwischen Utzenstorf und Kirchberg als Variante für den Ausbau des Grossflughafens.
Die Pläne für die sternförmig angelegten Start- und Landepisten haben noch heute irgendwie futuristischen Charakter. Vorgesehen waren vier sich kreuzende Pisten, auf der Südseite des Geländes wären das Vorfeld und die Terminals entstanden. Eine grosse Abfertigungshalle mit Hotel und Restaurant und der Zugang für Busse und Autos waren ebenso eingeplant wie ein Kopfbahnhof mit Anschluss an das nationale Schienennetz. Der Flughafen wäre über die Landstrasse zwischen Bern und Solothurn von Fraubrunnen aus erreichbar gewesen. Die Autobahn wurde erst viel später, also 1962 fertiggestellt.

Ackerland in Gefahr
Wegen der vorangegangenen Landzusammenlegung hatten sich die Bauern teilweise untereinander zerstritten, wurden aber durch die drohende Landenteignung bei einer Realisierung des Zentralflughafens schnell zu einer geschlossenen Gruppe von Gegnern des Vorhabens. Die eingeführte Lebensmittelrationierung infolge des Zweiten Weltkrieges und die von der Regierung eingeführte Anbauschlacht zur Erhöhung der Selbstversorgung standen für viele Bauern im krassen Gegensatz zum geplanten Projekt. Wären doch viele Hektaren wertvolles Ackerland zubetoniert worden, welches im Gegensatz zu hügeligen und bergigen Anbaugebieten leichter zu bewirtschaften war. Mit dem Slogan «Grossflugplatz oder Nutzboden?» argumentierten die Bauern in der Presse für ihren Widerstand. Obendrein wurde das Reisen mit dem Flugzeug von den Einheimischen mehrheitlich als völlig überflüssigen Luxus taxiert. Es wurde ein Aktionskomitee gegen den Grossflughafen gegründet. Im regional verteilten «Bärenspiegel» erschienen zu dieser Zeit regelmässig satirische Texte und Zeichnungen, die aus heutiger Sicht oft eher naiv wirken, aber in der damaligen Zeit den beharrlichen Widerstand der Bauern und der Bevölkerung demonstrierten. Im «Bund» vom
23. März 1945 konnte man schliesslich lesen: «Die Zürcher haben wieder einmal über die Berner geputzt. Der interkontinentale Grossflugplatz kommt nach dem Beschluss des Nationalrats nach Kloten. (...) Dann kam aber die Opposition der Utzenstorfer Bauern, unterstützt durch die grosse Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Die Sache erwies sich als politisch nicht populär, und so schwand die Einsatzbereitschaft, obschon das Projekt mit einem Gutachten des Eidg. Luftamtes eine sehr gute Beurteilung erfuhr und es eine Zeitlang hiess, Utzenstorf sei überhaupt die einzige Lösung. Das Grüpplein derjenigen, die es wagten, auf bernischem Boden einen Grossflugplatz zu empfehlen, wurde immer kleiner und auch die Regierung wurde immer zurückhaltender (...).»
Das einzige Grossflugzeug landete am 17. August 1943 in Utzenstorf. Es war eine Notlandung einer Boeing B-17 der Amerikaner, welche während einer Bombardierung der Messers­chmitt-Werke bei Regensburg schwer beschädigt wurde.
Das Projekt in der heutigen Zeit nochmals zu aktivieren, würde garantiert wieder auf grossen Widerstand stossen, aber sicherlich würden jetzt von den Gegnern andere Argumente aufgeführt werden. Und wer aus der Region in die weite Welt reisen will, ist heute schnell in Zürich-Kloten.
Utzenstorf hat beim Thema Fliegerei dennoch ein wichtiges Zeichen gesetzt. Der Einheimische Ernst Nyffenegger war einer der ersten Piloten der 1931 gegründeten Swissair. Sein Name ist ein Markstein in der Geschichte der schweizerischen Zivilluftfahrt. Und schon 1940 wurde in Utzenstorf vom Militär ein Flugplatz benutzt. Aber das ist schon wieder eine interessante Geschichte für sich.

Henry Oehrli

 

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