Kahlschlag beim Grab von Jeremias Gotthelf

  07.09.2021 Aktuell, Kultur, Gesellschaft, Lützelflüh

Wer in der vergangenen Woche das Grab des Pfarrers und Schriftstellers Albert Bitzius bzw. Jeremias Gotthelf (1797–1854) bei der Kirche in Lützelflüh besuchte, rieb sich verwundert die Augen. Verschwunden ist die alte, knorrige Traueresche, die im Jahr 1855 zum Gedenken an Gotthelf gepflanzt wurde und stets einen schützenden Schatten auf die letzte Ruhestätte des sozial und politisch engagierten Geistlichen warf; verschwunden sind auch die beiden Buchs-Kugeln, die den schlichten gotischen Grabstein wie zwei Wächter flankierten. Kein Grashalm, keine Pflanze hebt ihren Kopf über die Erde gen Himmel empor. Lediglich eine alte, lädierte Blumenschale sorgt für einige wenige Farbtupfer. Mittlerweile wurde diese zumindest durch einen neuen Blumenkorb ersetzt.
Der Kahlschlag bei der Grabstätte erfolgte durch die Kirchgemeinde Lützelflüh in Absprache mit dem zuständigen Gemeinderat, Ressort Tiefbau. Der Kirchgemeinde gehört das Land entlang der Kirche; die Einwohnergemeinde ist für den Unterhalt von Gotthelfs Grab zuständig, neben dem ein Gedenkstein an dessen Mutter Elisabeth Bitzius-Kohler erinnert. Die kranke Esche habe ein Sicherheitsrisiko dargestellt, schreibt die Kirchgemeinde in einer Mitteilung. Zudem verur-
sachte das Wurzelwerk offenbar Schäden an Abwasserleitungen, wodurch Folgekosten entstanden.
Für Unmut sorgt in Lützelflüh insbesondere die Kommunikationspraxis der Kirchgemeinde: Weder das Gotthelf Zentrum, der Verein Gotthelf-Stube, die Gotthelf-Stiftung noch die Nachkommen von Albert Bitzius wurden im Vorfeld über die Aktion
informiert. Auf der Website des Gotthelf Zentrums ist die Rede von einem «Trauerspiel um die Trauer­esche beim Grab Gotthelfs», von einer «gewaltsamen Aktion», ja gar von einer «Grabschändung». Betont wird die kulturelle Bedeutung der Trauer­esche und der Grabstätte als wertvolles Kulturgut. Kritisiert wird weiter das Timing der Aktion: Mitten in der Museumssaison, wenn zahlreiche Besucherinnen und Besucher aus nah und fern das historische Ensemble von Pfarrhaus, Spycher, Wöschhüsli und Kirche besichtigen, bietet die letzte Ruhestätte von Gotthelf nun ein äusserst tristes Bild.
Gotthelf selbst liebte eine üppige Blütenpracht. Als er im Jahr 1853 – bereits gesundheitlich angeschlagen – zur Kur im Gurnigelbad weilte, versuchte ihn seine älteste Tochter Jetti (Henriette) mit Nachrichten aus dem heimischen Garten aufzumuntern. Sie schrieb ihm: «Alles steht schön, fast die Hälfte Deiner Dahlien sind ausgegangen, es sind weiße, rosa, schwarze und zwei von den bronzefarbigen, und alle werden nach und nach gefüllt, auch der Laurier ist in voller Blüte und hat sehr vollkommene Blumen, gewiß ist er noch im schönsten Flor, wenn Du zurückkommst, lieber Vater, es sind noch eine Menge Knospen.» Es bleibt zu hoffen, dass das Grab von Gotthelf bald wieder angepflanzt und die Wiederinstandstellung ästhetisch passend ausgeführt wird – sodass sich all die Besucherinnen und Besucher dereinst wieder an einer schön bepflanzten Gedenkstätte erfreuen können. Die Gotthelf-Institutionen und die Nachkommen fordern, in den Prozess der Neugestaltung miteinbezogen zu werden.

Markus Hofer


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