Ein neu erschienenes Buch widmet sich «Albert Bitzius’ Engagement für die Volksschule»

  08.01.2025 Region, Aktuell, Kultur, Lützelflüh

Der Historiker und Germanist Markus Hofer hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Geistlichen Albert Bitzius, besser bekannt unter dem Schriftstellerpseudonym Jeremias Gotthelf, und seiner Tätigkeit für das Schulwesen auseinandergesetzt. Die daraus resultierenden Forschungsergebnisse veröffentlichte er Ende 2024 in einem knapp 900-seitigen Werk. Es handelt sich dabei um die überarbeitete Version seiner Dissertation «Albert Bitzius’ Engagement für die Volks­schule. Für eine ‹christliche Aufklärung›», welche er im Oktober 2020 an der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde einreichte.
Markus Hofer, geboren am 11. Dezember 1979, wuchs in der Gemeinde Lützelflüh im Emmental auf – dem langjährigen Wirkungsort des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Albert Bitzius. Er studierte Geschichte, Germanistik, Politologie und Soziologie an der Universität Bern und promovierte mit seiner Studie über den Schulpolitiker Bitzius. Während längerer Zeit arbeitete Markus Hofer an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf der Universität Bern, welche die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Jeremias Gotthelf herausgibt. Er präsidiert gegenwärtig den wissenschaftlichen Beirat des Gotthelf Zentrum Lützelflüh und ist als Geschäftsführer der Medienzentrum GmbH in Burgdorf tätig.

Bitzius hinterliess Spuren im Modernisierungsprozess der Volksschule
Der Schriftsteller und Pfarrer Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797–1854) setzte sich als Geistlicher, Schulkommissär, Schriftsteller und Journalist mit grossem Engagement für eine Verbesserung der Volksschule im Kanton Bern ein. Die quellenbasierte Studie analysiert seine Positionen in den bildungspolitischen Konflikten der Zeit und die Strategien, die er verfolgte, um seine Ziele zu erreichen.
Markus Hofer weist nach, dass Albert Bitzius die Entwicklung des Schulwesens im lokalen, regionalen und kantonalen Bereich stärker prägte als bisher angenommen und bei der Entwicklung zur modernen Volksschule Spuren hinterliess. Zugleich zeigt er auf, wie Bitzius seine schulpolitischen Positionen in den zweibändigen Roman «Leiden und Freuden eines Schulmeisters» transferierte, der im Jahr 1838 / 1839 erschien und von den pädagogischen Grössen der Zeit enthusiastisch aufgenommen wurde.
Peter Schürch, Gründer der Zeitung «D’REGION», sprach mit Markus Hofer über dessen Dissertation zu Gotthelf.

Peter Schürch: Welche Quellen standen dir für die Forschungsarbeit zu einem solch umfangreichen Werk zur Verfügung?
Markus Hofer: Von 1835 bis 1845 amtierte Bitzius als Schulkommissär des Kommissariatskreises Lützelflüh. Ihm oblag die regionale Aufsicht über das Schulwesen in den vier Gemeinden Hasle, Lützelflüh, Oberburg und Rüegsau. Eine wichtige Quelle stellten für mich die rund 390 überlieferten amtlichen Schreiben von Bitzius über das Schulwesen dar. Darin äussert er Lob und Tadel, weist auf allgemeine und spezifische Mängel in den Schulen hin, präsentiert Lösungsvorschläge und Initiativen zur Problembehebung und legt den vorgesetzten Behörden Rechenschaft über sein Handeln zur Verbesserung des Schulwesens ab. Seine Kenntnisse über die Primarschulen erwarb er sich in erster Linie durch die Tätigkeit als Aufsichtsperson, die er in verschiedenen Funktionen ausübte. Weitere Stellungnahmen von Bitzius zum Schulwesen im Kanton Bern finden sich in Predigten, privaten Briefen, Zeitungsartikeln und Eingaben an die Regierung. Als wichtige Quellen erwiesen sich zudem Gesetzestexte, Verwaltungsberichte und Schreiben des Erziehungsdepartements. Mein Buch soll zugleich die Geschichte des bernischen Primarschulwesens in seiner Sturm-und-Drang-Zeit dokumentieren.

Peter Schürch: Du hast detailliert die zeitgenössischen Rezensionen zum bekannten Roman «Leiden und Freuden eine Schulmeisters» untersucht. Wie wurde dieser damals aufgenommen?
Markus Hofer: Die fiktive Autobiografie des Schulmeisters Peter Käser erregte sowohl in den Feuilletons der Zeitungen als auch in pädagogischen Zeitschriften viel Aufmerksamkeit – sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland. Die Mehrheit der Literaturkritiker lobte die realistische Darstellung der ländlichen Verhältnisse inklusive ihrer dunklen Seiten und zeigte sich begeistert von der trefflichen Beobachtungsgabe des Autors. Andere Rezensenten kritisierten den «Schulmeister»-Roman dagegen gerade aufgrund seiner Wirklichkeitsnähe und warfen dem Autor vor, Verderbnis und Laster unnötig detailliert darzustellen und dadurch die Unsittlichkeit in der Gesellschaft zu fördern.
Bedeutende deutsche Pädagogen wie Karl Mager und Adolph Diesterweg zeigten sich begeistert von Käsers Lebensgeschichte, die sogar im Ausland anlässlich von Lehrerkonferenzen besprochen wurde. «Welchen Lehrer dieses Buch nicht begeistert, der ist, um einmal mit Mozart zu sprechen, ein Lump», urteilte Diesterweg.

 
Peter Schürch: Du bezeichnest Bitzius als Vorkämpfer für eine demokratisierte Volksschule für alle. Weshalb?
Markus Hofer: Albert Bitzius mass der regelmässigen Präsenz der Schulkinder im Unterricht viel Gewicht bei. Davon zeugen mehrere Initiativen zu Beginn der 1830er-Jahre, die er in seiner Funktion als Geistlicher sowie als Mitglied der Ortsschulkommission von Lützelflüh lancierte. Im Einklang mit der liberalen Verfassung vertrat er die Position, dass jedes Kind – unabhängig davon, aus welcher sozialen Schicht es stamme – das Anrecht auf eine schulische Ausbildung und damit auf eine christliche, geistlich-sittliche Erziehung und die Erlernung gewisser elementarer Grundkenntnisse habe. All diejenigen, die sich der besseren Bildung aller Kinder entgegenstemmten, verurteilte er als selbstsüchtig und unchristlich oder als verkappte Aristokraten und Verteidiger überkommener Privilegien. In der Primarschule sollte jedem Kind das gleiche Bildungsprogramm offenstehen. Sein Engagement galt vor allem auch den Knaben und Mädchen aus den sozialen Unterschichten. Bei seinem Kampf für einen besseren Schulbesuch stiess er jedoch auf massiven Widerstand. Zahlreiche Hausväter wollten ihre Kinder vor allem im Sommer nicht zur Schule schicken, sondern als Arbeitskräfte nutzen.

Peter Schürch: Albert Bitzius setzte sich auch vehement für Verdingkinder ein. Kannst du uns mehr darüber verraten?
Markus Hofer: Kurz nach Antritt seiner Vikariatsstelle in Lützelflüh wandte er sich in einem Brief vom 21. Februar 1831, der in der Dissertation erstmals publiziert wird, an den Gemeinderat und die Hausväter von Lützelflüh. Darin kritisierte er in scharfen Worten, dass «mehrere verteilte und von der Gemeinde zu besorgende Kinder» – also sogenannte Güter- und Verdingkinder – die Schule und Unterweisung nur mangelhaft und unfleissig besuchten und infolgedessen, trotz vorgerückten Alters, weder das Schreiben und Lesen beherrschten noch mit den elementaren mathematischen Grundkenntnissen vertraut waren. Der Begriff «Verdingkind» bezeichnet verwaiste oder armengenössige Mädchen und Knaben, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen konnten, sondern von kommunalen Armenbehörden im Rahmen fürsorgerischer Massnahmen fremdplatziert wurden. Die Gemeinde entrichtete den Pflegeeltern als Entschädigung ein sogenanntes Verding- oder Kostgeld. Die verdingten Mädchen und Knaben wurden oft ausgebeutet, schlecht behandelt und als Arbeitssklaven missbraucht und konnten deshalb den Schulunterricht nicht besuchen.
Bitzius’ Kritik führte im Dezember 1831 zur Gründung der Ortsschulkommission von Lützelflüh, die unter anderem den Schulbesuch aller Schulkinder – auch der Verdingknaben und -mädchen – überwachte.

Peter Schürch: Ein äusserst heikles Thema war bereits damals der sexuelle Missbrauch in der Schule. Albert Bitzius forderte die Einführung einer «schwarzen Liste».
Markus Hofer: Ein besonders gravierender Missbrauchsfall ereignete sich im Winter 1841 / 1842 in der Gemeinde Lützelflüh. Ein Lehrer missbrauchte mehrere Schulknaben. Die Vorfälle erschütterten den Lützelflüher Schulkommissär und Familienvater Albert Bitzius zutiefst. In seiner amtlichen Korrespondenz werden sein Entsetzen, seine Wut und Empörung immer wieder greifbar. Am 7. Januar 1842 schrieb er an das Erziehungsdepartement: «Ich will aufrichtig bekennen, dass wenn ein Lehrer also an meinen Kindern täte, ich mich, trotz dem ich Pfarrer bin, kaum enthalten könnte denselben halb tot zu schlagen.» Um weitere ähnliche Fälle zu verhindern, setzte er sich dafür ein, dass der Schulmeister für immer aus dem Lehramt entfernt wurde. Zum andern beabsichtig­te er, die Kontroll­möglichkeiten der Schulkommissäre zu verbessern. Bereits im Dezember 1837 hatte Bitzius in einem Schreiben an das Erziehungsdepartement die Anlegung eines Registers aller abgesetzten Primarlehrer angeregt, das an sämtliche Schulkommissäre abgegeben werden sollte. Die Forderung nach einer «schwarzen Liste» wiederholte er nun erneut. Das Erziehungsdepartement lehnte seinen Vorstoss allerdings ab.
Als einige Jahre später vage Verdachtsmomente auf eine unsittliche Beziehung eines Lehrers zu einem Schulmädchen hindeuteten, setzte sich Bitzius vehement für dessen Abberufung ein. Der Kinderschutz war für ihn das Wichtigste. Andere Schulkommissäre und Pfarrer reagierten bei sexuellen Missbrauchsfällen im schulischen Kontext weitaus weniger entschlossen.
Die von Bitzius geforderte «schwarze Liste» ist heute übrigens schweizweit eingeführt: Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) erfasst seit dem 1. Januar 2004 straffällige und verhaltensauffällige Lehrpersonen in einem Verzeichnis.  

Peter Schürch: Albert Bitzius setzte sich für die Verbesserung der Lehrerlöhne ein. Kannst du uns mehr dazu sagen?
Markus Hofer: Albert Bitzius erachtete eine Hebung der Lehrerlöhne als unabdingbare Voraussetzung für die Verbesserung des Primarschulwesens und setzte sich vehement für dieses Ziel ein. Nach 1831 bat er das Erziehungsdepartement in mehreren Briefen um finanzielle Unterstützung für Schulmeister, die sich in einer schwierigen ökonomischen Lage befanden. Dies zeigt, dass ihre Löhne vielfach kaum zum Leben ausreichten. Mit Nebenverdiensten versuchten die Lehrpersonen ihr Einkommen aufzubessern.
Für Bitzius war deshalb längst der Moment gekommen, «den Schulmeis-
tern, welche grossen Kummer im Herzen tragen, zu zeigen, dass man in der neuen Zeit nicht bloss mehr von ihnen fordern, sondern auch mehr für sie tun wolle».
Im Jahr 1837 erliess der Grosse Rat schliesslich ein Gesetz, das jedem angestellten Primarlehrer zusätzlich zum bisherigen Lohn eine Staatszulage gewährte. Mit dem umfangreichen Quellenmaterial lässt sich belegen, dass Bitzius einen massgeblichen Anteil an der Einführung der allgemeinen Staatszulage hatte, welche die Lebenssituation der Lehrer auf einen Schlag grundlegend verbesserte und einen wichtigen Schritt für die Professionalisierung des Schulwesens bedeutete.

Peter Schürch
Erscheinung: Georg Olms Verlag, 1. Auflage 2024. Das Buch kann in jeder Buchhandlung bestellt werden.

Seit dem Gründungsjahr 2007 mit der «D’REGION» verbunden
Markus Hofer ist seit über 17 Jahren mit der Medienzentrum GmbH, der Herausgeberin der Zeitung «D’REGION», verbunden. Vom 8. November 2007 bis 16. April 2011 war er als stellvertretender Redaktionsleiter tätig, anschliessend bis 31. Dezember 2014 als Redaktionsleiter der Zeitung «D’REGION Emmental». Aufgrund seiner Tätigkeit an der Universität Bern und seiner Dissertation gab Markus Hofer die Redaktionsleitung zwischenzeitlich ab. Er blieb der Medienzentrum GmbH aber stets verbunden. Im Rahmen eines Teilpensums war er für spezielle Projekte angestellt.  
Das wohl bekannteste Projekt war das Buch «Vom Anfang bis zum Schlussgang», welches anlässlich des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes 2013 in Burgdorf im Eigenverlag der Druckerei Haller + Jen-zer AG erschien. In diesem einzigartigen Werk haben Markus Hofer sowie weitere Autorinnen und Autoren in Text und Bild die Geschichte des Schwingsports und die Entstehung des Schwingfests Burgdorf bis zum Schlussgang dokumentiert. Das Buch erwies sich für die Haller + Jenzer AG als Erfolg.
Seit dem 1. September 2020 übernahm Markus Hofer als Geschäftsführer die volle Verantwortung für die Leitung der Medienzentrum GmbH. In dieser Funktion betreut er die Zeitung «D’REGION Emmental». Neben der redaktionellen Arbeit gehört die Sicherstellung der wirtschaftlichen und termingerechten Herausgabe der Zeitung und der Verlagsprodukte zu seinen Hauptaufgaben.

 

 


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