Resozialisierungsbestrebungen führen zu langfristiger Sicherheit

  09.08.2011 Aktuell, Gesellschaft, Region, Politik, Hindelbank

Die Anstalten Hindelbank sind die einzige Vollzugsanstalt für Frauen in der deutschsprachigen Schweiz. Das Gefängnis liegt rund 25 Gehminuten vom Bahnhof entfernt und ist bereits von Weitem sichtbar. Es befindet sich auf einer Anhöhe der Gemeinde. Das Schloss Hindelbank, das im 18. Jahrhundert von Hieronymus von Erlach errichtet wurde, dient heute als Verwaltungsgebäude der Strafanstalt. Der weitläufige Gebäudekomplex ist von einem Sicherheitszaun umgeben. Die Eingänge werden mit Kameras überwacht. Wer das Areal betreten will, wird kontrolliert.

Spannweite an Delikten ist sehr gross
In den Anstalten Hindelbank verbüssen erwachsene Frauen aus 25 verschiedenen Nationen eine Haftstrafe. Sie stammen aus so unterschiedlichen Staaten wie Deutschland, Italien, Nigeria, der Dominikanischen Republik oder Mexiko. Die Schweizerinnen bilden mit einem Anteil von gegenwärtig 57% die Mehrheit. Die Spannweite an Delikten ist sehr gross und reicht vom Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz bis zum mehrfachen Mord. Dementsprechend unterschiedlich ist auch das jeweilige Strafmass: Während einige Frauen bereits nach wenigen Monaten wieder in die Freiheit entlassen werden, verbüssen andere eine lebenslange Haftstrafe. Die Anstalt mit total 115 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verfügt über insgesamt 107 Plätze in sieben Wohngruppen – inklusive der Aussenwohngruppe Steinhof in Burgdorf.
Verantwortlich für den reibungslosen Ablauf in den Anstalten ist seit Mai dieses Jahres Direktorin Annette Keller, die vom Amt für Freiheitsentzug und Betreuung der Polizei- und Militärdirektion zur Nachfolgerin von Marianne Heimoz gewählt wurde. Die knapp 50-Jährige begann ihre berufliche Laufbahn als Primarschullehrerin. Anschliessend schloss sie ein Theologiestudium ab und war einige Jahre als Pfarrerin tätig. «Schliesslich fällte ich die Entscheidung, mich zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen», berichtet Keller. «In den Strafvollzug bin ich eher per Zufall hineingerutscht. In Hindelbank war eine Stelle als Betreuerin frei, die es mir ermöglichte, parallel dazu meine Ausbildung zu vollenden. Die Arbeit mit Menschen in einer schwierigen Lebenssituation hat mich schon als Pfarrerin fasziniert. In Hindelbank traf ich auf Frauen mit einer speziellen Biografie, die sich mit ihrer Vergangenheit und dem begangenen Delikt auseinandersetzen müssen. Zudem empfand ich das multikulturelle Umfeld als sehr interessant. Damals befanden sich in Hindelbank noch mehr Frauen aus dem lateinamerikanischen Raum.»

Kooperatives Verhalten ist die Regel
Jede eingewiesene Frau bekommt in Hindelbank eine Betreuerin bzw. einen Betreuer als Bezugsperson zugewiesen. Gemeinsam wird eine Situations- und Vollzugsplanung erstellt, die zielgerichtet auf den Tag der Entlassung ist. Die entscheidende Frage lautet: Was muss die betreffende Person lernen und erreichen, damit ein Neustart möglich wird, ohne wieder straffällig zu werden? Gemäss Keller sind die Insassinnen in den meisten Fällen zur Kooperation bereit: «Keine der Frauen befindet sich freiwillig in den Anstalten. Bei vielen setzt sich aber die Erkenntnis durch, die Zeit, die sie hier verbringen müssen, zu nutzen, um die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben in Freiheit zu erreichen.» Während drei Jahren war Keller als Betreuerin tätig, danach als Abteilungsleiterin mit Einsitznahme in der Geschäftsleitung. Von 2009 bis 2011 leitete sie den Sozialdienst der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, bevor sie in diesem Frühling nach Hindelbank zurückkehrte.

Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Resozialisierungsbestrebungen
«Als Direktorin habe ich den Auftrag, die Gesamtanstrengungen unserer Mitarbeitenden im Hintergrund zu steuern, damit diese ihre Arbeit möglichst effektiv und effizient ausführen können. Die Ziele der Anstalt sind einerseits, die Sicherheit für die Gesellschaft zu gewährleisten, andererseits eine erfolgreiche Resozialisierung der Insassinnen zu ermöglichen.» Die Verantwortung, die auf den Schultern von Keller und ihrem Team lastet, ist gross. Das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Resozialisierungsbestrebungen sorgt in der Gesellschaft immer wieder für Diskussionen – zuletzt, als der Sexualstraftäter Jean-Louis B. bei einem Freigang aus dem Neuenburger Gefängnis Gorgier geflohen war. «Grundsätzlich dienen Resozialisierungsbestrebungen der langfristigen Sicherheit. Resozialisierung bedeutet, die Frauen auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten, ohne dass sie wieder rückfällig werden. Um dies zu ermöglichen, braucht es Möglichkeiten und Spielräume, um die eingewiesenen Frauen langsam auf ihren Austritt aus dem Gefängnis vorzubereiten. Beschränkte Risiken müssen eingegangen werden. Zuvor muss die Situation der Betroffenen natürlich genau analysiert werden. Zu den Resozialisierungsbestrebungen gehören ausserdem die Aufarbeitung des Delikts und die Förderung von Kompetenzen und Fähigkeiten – sowohl in persönlicher als auch in beruflicher Hinsicht – die einen erfolgreichen Neustart ermöglichen sollen.» Seit der Flucht von Jean-Louis B. hat der Kanton alle begleiteten Ausgänge gemeingefährlicher und verwahrter Täter sistiert – so auch in Hindelbank. Keller: «Wir sind gegenwärtig dabei, alle internen Abläufe nochmals zu überprüfen – obwohl sich bei uns keine Vorfälle ereignet haben.»
Die Sicherheitsvorkehrungen beinhalten drei Komponenten: erstens die Infrastruktur und das technische Equipment, zweitens klar geregelte Abläufe und Kontrollen und eine klare Kommunikation sowie drittens das Personal. Keller: «Das Personal ist der entscheidende Faktor. Es ist von grosser Wichtigkeit, dass die Angestellten stets aufmerksam sind, einen klaren Umgang mit den Insassinnen pflegen und sich respektvoll verhalten. Probleme und Schwierigkeiten lassen sich dadurch am ehesten erkennen.»
In den Anstalten Hindelbank sind rund 80% aller Beschäftigten weiblich. «Bewusst stellen wir aber auch Männer ein. Viele der Insassinnen haben in der Freiheit negative Erfahrungen gemacht. Der Kontakt zu Männern, die sich anständig und professionell verhalten, soll dazu beitragen, das vorhandene eindimensionale Bild zu korrigieren. Natürlich achten wir genau darauf, dass die nötige Distanz eingehalten wird», so Keller.
80% der in Hindelbank einsitzenden Frauen sind Mütter. In der Regel wachsen ihre Kinder bei Pflegefamilien, selten beim Vater auf. «Die Frauen verspüren vielfach grosse Schuldgefühle, weil sie aufgrund ihrer Delikte die Trennung vom Kind zu verantworten haben und nicht für ihren Sohn oder ihre Tochter da sein können», weiss Keller.


Wohngruppe, in der Insassinnen mit ihren Kindern leben
Die Anstalten Hindelbank verfügen jedoch auch über eine Wohngruppe, in der Insassinnen mit ihren Kindern leben. Gegenwärtig sind vier Kinder in Hindelbank bei ihren Müttern untergebracht. Keller: «Bei Frauen, die während ihrer Schwangerschaft verhaftet wurden, kann entschieden werden, dass es das Beste für das Kind sei, in den ersten drei Lebensjahren bei der Mutter aufzuwachsen. Während die Frau am Tag ihrer Arbeit nachgeht, wird das Kind in der Kita im Dorf betreut. Später wird gemeinsam mit der Vormundschaftsbehörde über die Zukunft des Kindes beraten. In diesen Entscheidungsprozess wird die Mutter nach Möglichkeit miteinbezogen.»

«Die Würde eines jeden Menschen muss gewährleistet sein»
Kellers Menschenbild ist vom Theologiestudium geprägt und kommt ihr bei der Arbeit zugute. «Man muss die Menschen realistisch beurteilen können. Jede Person hat verschiedene Seiten, konstruktive und destruktive. Dabei ist es nicht selbstverständlich, dass es immer gelingt, die dunklen Seiten im Zaum zu halten. Doch jede Person muss für ihr Handeln die Verantwortung übernehmen. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen ist notwendig. Diese wird bei der Deliktaufarbeitung gewährleistet. Gleichzeitig bin ich überzeugt davon, dass jeder Mensch wertvoll ist. Resozialisierung bedeutet, die guten und kompetenten Seiten der Insassinnen zu entwickeln und zu fördern. Ich stehe für einen Strafvollzug ein, bei dem die Würde eines jeden Menschen gewahrt wird», so Keller. «Der Ausspruch, wonach die Stärke einer Gesellschaft davon abhängt, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, lässt sich durch folgenden Satz erweitern: Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich daran messen, wie es in ihren Gefängnissen aussieht. Von der Richtigkeit dieser Aussage bin ich überzeugt.» Markus Hofer

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