«Scham und Stigma sind die grössten Hürden»

  31.10.2012 Aktuell, Burgdorf

«D’REGION» hat sich mit Dr. med. Jürg Zühlke, Chefarzt Psychiatrischer Dienst im Regionalspital Emmental, Brigitte Gidl, Dipl. Sozialarbeiterin HFS, und Susanne Gerber Kammermann, Dipl. Sozialpädagogin HFS, über das Tabuthema unterhalten.

«D’REGION»: Der Begriff «Depression» wird umgangssprachlich häufig sehr weitläufig gebraucht. Was ist unter einer krankheitswertigen Depression zu verstehen?
Eine krankheitswertige Depression ist eine Gemütsstörung (affektive Störung). Sie geht einher mit Veränderungen der Belastbarkeit, der Lebensgestaltung, der Arbeitsfähigkeit und der sozialen Umwelt. Die Betroffenen fühlen sich also in ihrer gesamten Lebensführung von der Depression stark beeinträchtigt.

«D’REGION»: Was ist eine Depression nicht?
Eine Depression ist nicht eine kurzzeitige Traurigkeit. Depression ist kein Zeichen von persönlicher Schwäche, die mit Willenskraft oder auf Wunsch überwunden werden kann. Sie ist aber auch nicht unheilbar.

«D’REGION»: Was sind die häufigsten Ursachen für diese Erkrankung?
Es ist wichtig zu betonen, dass es nicht einfach eine einzige Ursache der Depression gibt. Hauptsächlich sind drei Faktoren beteiligt: Neben erblicher Veranlagung und der Lebensgeschichte spielen auch aktuelle psychische Belas­tungen eine Rolle. Ebenso können rein körperliche Erkrankungen wie etwa der Schilddrüse oder eine schädliche Verhaltensweise wie Drogenmissbrauch eine Depression auslösen.

«D’REGION»: Wie verbreitet sind Depressionen?
Die Depression ist heute die häufigste psychische Erkrankung. Je nachdem, was als Depression diagnostiziert wird, schwanken die Zahlen jedoch stark. 20 Prozent der Bevölkerung erleben mindestens einmal im Leben depressive Episoden, dabei kommen Depressionen bei Frauen doppelt so häufig vor wie bei Männern.

«D’REGION»: Haben Depressionen in den letzten Jahren zugenommen oder werden sie heute einfach häufiger diagnostiziert?
Tatsächlich werden immer mehr Menschen wegen Depressionen behandelt. Das hat damit zu tun, dass wir immer älter werden. Durch die medizinischen Möglichkeiten steigt die Lebenserwartung auch bei chronisch Kranken, unter denen 80 Prozent an Depressionen leiden.
Zentral ist in diesem Zusammenhang ebenso die Abnahme natürlicher Auffangbecken der Betroffenen wie die Familie, die Kirche, usw., die an Bedeutung verlieren.

«D’REGION»: Dennoch gilt die Depression nach wie vor als Krankheit, die man nicht haben darf.
Weitverbreitet bleibt das Vorurteil, depressiv Erkrankte seien nicht wirklich krank, sondern ihnen fehle es lediglich an Willenskraft oder Disziplin. Depression ist in der Schweiz deshalb nach wie vor ein Tabuthema. Viele Depressive leiden zusätzlich zu ihrer Krankheit unter der Stigmatisierung. Betroffene ziehen sich aus Scham über ihre Krankheit zurück, anstatt zum Arzt zu gehen. Ihr Umfeld reagiert mit diffusen Ängsten. Es entsteht ein Teufelskreis der Isolation.

«D’REGION»: Wie können die Betroffenen vom Joch des Stigmas befreit werden?
Dringend notwendig ist Aufklärungsarbeit zur Entstigmatisierung und Prävention psychischer Erkrankungen und Suizid. Durch die bereits erfolgte Informationskampagnen ist zwar bereits ein Anstieg der Sensibilität für psychische Erkrankungen festzustellen, Erkrankte werden inzwischen weniger stigmatisiert. Das heisst, die bisherigen Bemühungen sind nicht wirkungslos. Doch diese Bemühungen kosten uns etwas. Die geforderte Strategie beinhaltet also auch Ausgaben unter anderem im Gesundheitssystem. Um das bisher Erreichte nicht wieder zu verlieren, müssen wir bereit sein zu investieren. Es herrscht Konsens darüber, dass die Schweiz eine Strategie für psychische Gesundheit auf dem neusten Stand der Wissenschaft sowie Informationskampagnen braucht, um Betroffenen zu helfen.

«D’REGION»: Was können Sie diesbezüglich mit der Podiumsveranstaltung erreichen?
Die Podiusmveranstaltung soll einen Beitrag zur Entstigmatisierung der an einer Depression leidenden Menschen leisten. Im Dialog mit Fachleuten positionieren Betroffene und deren Umfeld Fragen zur Vielfältigkeit der Depression. Dabei handeln wir die Depression nicht nur theoretisch ab. Mit dem Miteinbezug von Betroffenen, die von ihrem Umgang mit der Krankheit erzählen, geben wir der Depression ein Gesicht und eine Stimme. Ebenso zentral ist, dass die Depression nicht nur diejenigen betrifft, die erkrankt sind, sondern auch das Umfeld. So ist es beispielsweise für Familienangehörige nicht einfach, mit der Krankheit umzugehen. Aber das Verständnis und die Hilfe der nächsten Angehörigen sind eine nicht zu unterschätzende Hilfe im Rahmen der Behandlung, auch sie sollen miteinbezogen werden. 

Interview: Nadine Wiggenhauser
 


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