Marlen Reusser fährt allen davon

  21.07.2020 Aktuell, Foto, Region, Sport, Hindelbank

In Hindelbank wohnt eine äusserst beachtenswerte Sportlerin, denn Marlen Reusser gilt mittlerweile als eine der besten Zeitfahrerinnen der Welt. Seit sie 2017 – im gleichen Jahr wie sie ihre erste Lizenz bei Swiss Cycling gelöst hat (!)
 – ihre erste Schweizermeisterschaft gewonnen hat, haben sich noch weitere Titel dazugesellt. Den letzten Sieg feierte die 28-Jährige erst vor Kurzem: Am Sonntag, 12. Juli 2020, sicherte sie sich in Belp ihren dritten Schweizermeistertitel im Zeitfahren. Die junge Sportlerin denkt dabei manchmal an Zeiten zurück, in denen sie unterschätzt wurde, und wünscht sich mehr Verständnis auf den Schweizer Strassen.

Karriereplan Sportlerin?
«Ich habe eigentlich nie daran gedacht, Sportlerin zu werden», gibt die Hindelbankerin offen zu. Denn im Vergleich zu anderen Sportlerinnen und Sportlern trainiert sie nicht bereits seit ihrer Kindheit für eine bestimmte Sportart. So hat sich Marlen Reusser früher beispielsweise auch künstlerisch engagiert. Sie spielte in ihrer Jugend Geige und wurde an der Berner Hochschule für Künste (HKB) sogar darin gefördert. «Anscheinend habe ich Talent mitgebracht», erzählt sie lachend. Irgendwann sei es ihr aber über den Kopf gewachsen. Später hat sie Medizin studiert (mit Abschluss im gleichen Jahr wie ihr erster Schweizermeistertitel) und arbeitete teilzeit im Spital Langnau und in einer Praxis für Hausarzt- und Komplementärmedizin. «Ich habe eigentlich selten über einen bestimmten Beruf nachgedacht, sondern das gemacht, was mir auch Spass bereitet», erklärt Marlen Reusser.
Dazu kommt auch politischer Einsatz, so hat sich die junge Emmentalerin bei der Grünen Partei engagiert und für den Nationalrat kandidiert. Und gleichzeitig etablierte sie sich zu einer Spitzensportlerin in der Schweiz. Auf die Frage, wie das alles unter einen Hut zu bringen war, antwortet Marlen Reusser: «Ich habe das Gefühl, dass ich immer Sachen ausgewählt habe, die mir liegen. Auch wurden mir nie Steine in den Weg gelegt.» So kann sie auch auf die volle Unterstützung ihrer Familie zählen. Druck von den Eltern habe es nie gegeben, im Gegenteil: «Ich hatte immer so viele Ideen, dass mich meine Eltern eher bremsen wollten, damit ich mich nicht überlaste.»
Anfang 2019 setzte Reusser dann voll auf den Profisport, kündete ihre Teilzeitstelle und zog wieder im Haus ihrer Eltern in Hindelbank ein. Diesen Schritt bereut sie bis heute nicht: «Ich komme gar nicht gross dazu, die Arbeit zu vermissen. Aber es ist schön zu wissen, dass man etwas so Spannendes hat, zu dem man zurückkehren könnte, falls es mit dem Sport nicht klappen sollte.»

Beginn einer Sportlaufbahn
Erfahrungen im Sport hat Marlen Reusser bereits in ihrer Jugend im Laufsport und später im Triathlon gesammelt. Durch eine Fehlbildung im Sprunggelenk musste sie sich aber irgendwann hauptsächlich auf das Radfahren und Schwimmen konzentrieren. Der vollständige Wechsel zum Radsport kam mit dem Beitritt in den Radfahrerverein Ersigen, wie Reusser erzählt. Sie sei mit offenen Armen empfangen worden und die Vereinstrainings hätten ihr sehr gefallen. Im Radfahrerverein Ersigen sind dann auch die ersten Stimmen laut geworden, dass sich Marlen Reusser unbedingt eine Lizenz besorgen soll. Ihren ersten Trainer Bruno Guggisberg fand sie dank einer Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis. «Er hat mit mir die Katze im Sack gekauft», lacht sie. Doch durch ihre raschen Erfolge wurde auch der nationale Verband für Radfahrer in der Schweiz (Swiss Cycling) auf Marlen Reusser aufmerksam. Bald darauf unterstützte Marcello Albasini die junge Sportlerin als zweiter Trainer. Der Rest ist schon beinahe Geschichte. In den folgenden drei Jahren erreichte Marlen Reusser unter anderem fünfSchweizermeistertitel (2017 2x in Zeitfahren und Berg, 2019 2x Zeitfahren und Strasse, 2020  im Zeitfahren), Gold an den European Games in Weissruss­land (2019) und den sechsten Rang an den UCI-Strassen-Weltmeisterschaften 2019 (im Team und im Einzelzeitfahren). Der einzige Grund, warum 2018 Medaillen fehlen, war eine schwere Verletzung.

Anderen Mut machen
Die junge Frau, die heute als eine der Topspitzensportlerinnen des Landes gilt, möchte auch anderen Frauen Mut machen. «Junge Frauen haben oft nicht so viel Selbstbewusstsein und brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Manchmal wird man einfach abgestempelt.» Das hat sie auch selbst erlebt. Ihren ersten richtigen Sporteinstieg hat sie bei einem Berner Laufclub erlebt. Marlen Reusser erinnert sich noch gut: «Ich hatte lange nicht so eine sportliche Figur wie heute. Man hat mir die Spitzensportlerin nicht angesehen.» Bei einem Krafttraining im Winter hätte ein Trainer regelrecht Leute rausmobben wollen, wie Reusser berichtet. Er wollte die unsportlich wirkenden Leute loswerden und hatte es auch direkt auf Marlen Reusser abgesehen. «So etwas ist ein Riesenbremser», erinnert sich Marlen Reusser zurück. «Insbesondere von einem Trainer hätte ich Besseres erwartet.» Dieses Erlebnis hat sie aber gut verarbeitet und nun weiss sie, dass man sich von so einer Begegnung nicht stoppen lassen darf. Trotzdem denkt sie noch oft an diese Situation zurück: «Ich hoffe, dass er sich noch daran erinnert und ab und zu Zeitung liest.»

Das Positive an der Coronakrise
Für Marlen Reusser persönlich hat die Coronakrise der vergangenen Monate durchaus einige positive Aspekte. Da der ganz normale «Rennzirkus» ausfällt, findet die Spitzensportlerin nun noch mehr Zeit für Trainings und Vorbereitungen. Das Zeitfahren braucht sehr viele Tests und Analysen und auch die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio auf 2021 habe für Reusser nur Gutes: «Ich befinde mich gerade auf einer steilen Lernkurve. Jetzt kann ich mich noch weiter entwickeln.» Wer die Schweiz an den Olympischen Spielen vertreten darf, liegt in den Händen des nationalen Verbandes, doch die Chancen, dass Marlen Reusser in Japan in die Pedale treten darf, stehen sehr gut.

Liebe zum Emmental
Wie sehr Marlen Reusser ihre Heimat am Herzen liegt, wird im Gespräch schnell klar. Egal, ob zum Trainieren oder für Ausflüge, über das Emmental kann die Sportlerin nur Positives berichten. Auch wenn sie trainings- und wettkampfbedingt gar nicht mehr so oft zu Hause (also wieder bei den Eltern) ist, so komme sie doch immer sehr gern wieder zurück. Nur etwas wünscht sich die junge Sportlerin in der Schweiz: mehr Bewusstsein für den Radsport.

Mehr Verständnis
Obwohl die 28-jährige Sportlerin eine der besten Zeitfahrerinnen der Welt ist, stösst sie in der Schweiz oft auf Unverständnis, besonders im Strassenverkehr. Dass man es als Radsportler in der Schweiz äusserst schwierig hat, erlebt sie am eigenen Leib. «In der Schweiz muss ich nunmal auf der Strasse fahren, etwa wenn ich mit meinem Zeitfahrvelo ein Intervalltraining absolviere», argumentiert Reusser. «Ich habe das Gefühl, Autofahrer werden manchmal schon aggressiv, wenn sie einen Fahrradfahrer schnell fahren sehen. Ich hätte oft schon fast einen Unfall gehabt, auch wenn ich brav auf der Seite fahre. Wenn solche Leute wüssten, dass ich die Schweiz bald an einer Weltmeisterschaft oder Olympiade vertrete ... Ich wünsche mir einfach, dass wir mehr Geduld miteinander haben und etwas mehr Rücksicht aufeinander nehmen können.»
Auch dieses Jahr stehen noch einige Wettkämpfe an, der grösste davon sind die UCI-Strassen-Weltmeisterschaften  in Aigle-Martigny. Danach sind alle Augen auf die Olympiade im kommenden Jahr gerichtet. «Es wäre mir wirklich nie in den Sinn gekommen, dass ich dort selber mal teilnehmen würde», freut sich die junge Sportlerin.
Wer in Zukunft also schnell fahrenden Velofahrern begegnet, sollte sich nicht sofort ärgern. Vielleicht geht es ja um eine zukünftige Olympiamedaille für die Schweiz!

David Kocher

Informationen und aktuelle News auf der Website marlenreusser.com.


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