«Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit»

  08.02.2022 Aktuell, Burgdorf, Gesellschaft

Das Spital Emmental setzt seine Publikumsvorträge zu medizinischen Themen fort. Der Start ins Jahr 2022 im Spital Emmental in Burgdorf erfolgt am 17. Februar 2022 um 19.00 Uhr. Während rund 45 Minuten referieren Dr. med. Bettina Kleeb (Leiterin Schmerzzentrum Emmental) und Dr. med. Stoyan Petkov (Leitender Arzt Schmerzzentrum und Orthopädie) zum Thema «Wenn Rückenschmerzen chronisch werden – welche Möglichkeiten gibt es dann?» und beantworten anschliessend Fragen aus dem Publikum. Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit mit enormen wirtschaftlichen Auswirkungen. Was ist zu tun, wenn der Rücken schmerzt? Wann sollte ärztliche Hilfe – allenfalls sogar bei Spezialistinnen und Spezia­listen – beansprucht werden? Um Leiden zu verhindern, ist eine frühzeitige und vor allem interdisziplinäre Behandlung angezeigt.
Zurzeit gilt für Veranstaltungen in Innenräumen die vom Bundesrat angeordnete 2-G-Zertifikatspflicht. Neben dem Zertifikat (elektronisch oder in Papierform) ist ein amtlicher Ausweis (Identitätskarte oder Pass) vorzuweisen.

«D’REGION»: Werden Ihnen die an Schmerzen leidenden Patienten meist durch den Hausarzt beziehungsweise die Hausärztin zugewiesen?
Dr. Kleeb: Mehr als die Hälfte der Patientinnen und Patienten werden durch die Hausärztinnen und Haus­ärzte zugewiesen. Andere kommen von anderen Schmerzspezialisten oder von Kolleginnen und Kollegen der Orthopädie, Neurologie, Onkologie, Psychiatrie oder der Chirurgie. Einige Patientinnen und Patienten wenden sich an uns, weil sie von uns gehört oder gelesen haben. Wir sind jeweils froh, wenn das Ganze mit dem Hausarzt oder der Hausärztin abgesprochen ist, damit uns auch die Berichte der vorhergehenden Untersuchungen zur Verfügung gestellt werden können.

«D’REGION»: Gibt es eine Art «Hitparade», mit welchen Schmerzen Patienten zu Ihnen  kommen – mit Kopf-, Bauch-, Rücken-, Muskel- oder anderen Schmerzen?
Dr. Kleeb: Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit und machen sicher den Hauptanteil unserer Patienten aus. Das liegt aber auch an der Entwicklung der Schmerztherapie. Schmerztherapeutinnen und Schmerztherapeuten sind – vor allem in der Deutschschweiz – meistens Anästhesistinnen und Anästhesisten, also Narkoseärzte und Narkoseärztinnen. Wir sind uns gewohnt, mit Spritzen und Nadeln umzugehen. Früher wurde in der Schmerztherapie ausschliesslich gestochen – also Infiltrationen durchgeführt. In unserem Schmerzzentrum haben wir aber Personen mit zusätzlichen Ausbildungen, sodass wir auch andere Schmerzerkrankungen behandeln können. An zweiter Stelle der «Schmerz-Hitparade» kommen wohl die Muskeln. Seien das Muskelverspannungen oder auch das Weichteilrheuma, das Fibromyalgie-­Syndrom. Menschen mit Kopfschmerzen und auch Migräne behandeln wir zusammen mit den Neurologinnen. Auch dies kommt sehr häufig vor. Zudem ist es so, dass bei vielen unserer Patientinnen und Patienten einfach alles weh tut. Das ist eine Schmerzkrankheit – die Schmerzen werden dann zu einer eigenständigen Krankheit.

«D’REGION»: Gibt es ein Alarmsignal, ab wann Schmerzen ernst zu nehmen sind und ärztliche Hilfe angezeigt ist?
Dr. Kleeb: Wenn Schmerzen zum Bei­s­piel auf Hausmittel oder ein einfaches Schmerzmittel nicht ansprechen. Klar ist, dass man mit Brustschmerzen, gerade wenn sie noch in den linken Arm oder den Kiefer ausstrahlen, zu einer Ärztin oder einem Arzt gehen muss. Schmerzen sind ja primär, wie Sie erwähnen, ein wunderbares Alarmsignal und schützen uns. Akute Schmerzen bedeuten Alarm, chronische nicht mehr. Das ist jedoch ein anderes Thema. Wie in der «Hitparade»: Bei Muskelschmerzen mit Lähmungen oder Zuckungen muss man zum Arzt. Kopfschmerzen mit Wortfindungsstörungen, Erbrechen oder auch Lähmungen sind Alarmzeichen. Wenn Rückenschmerzen begleitet werden von Schwäche in den Beinen oder den Armen oder auch von Problemen beim Stuhlgang oder Wasserlösen, gehören sie auf den Notfall. Hohes Fieber ist ein weiteres Zeichen.

«D’REGION»: Kommen Patienten oft mit akuten Schmerzen zu Ihnen oder erst dann, wenn die Schmerzen bereits chronisch sind?
Dr. Kleeb: Beides. Hier müsste man zuerst definieren, was akute und was chronische Schmerzen sind. Es gibt eine zeitliche Definition. Schmerzen gelten ab einer Dauer von drei bis sechs Monaten als chronisch. Das
heisst aber nicht, dass sie nicht auch wieder verschwinden können. Akute Schmerzen haben eine Funktion. Die sagen uns: Hei, da stimmt was nicht. Menschen, die keine Schmerzen haben können, weil sie ohne Schmerznervenfasern auf die Welt gekommen sind, können keine Schmerzen spüren und sterben meistens schon in der Kindheit. Akute Schmerzen, auch wenn sie unangenehm sind, schützen uns und sind extrem wichtig. Chronische Schmerzen haben diese Schutzfunktion verloren. Häufig schmerzt dann nicht mehr nur der Fuss oder der Rücken. Vielmehr dehnen sich die Schmerzen aus in andere Körperregionen. Manchmal wird der ganze Körper schmerz­empfindlicher. Wir werden sehr, sehr dünnhäutig, wenn wir immer Schmerzen haben. Bei uns kommt rund ein Drittel der Patientinnen und Patienten mit akuten Schmerzen und etwa zwei Drittel haben schon länger Schmerzen. In einer internationalen Studie hat man festgestellt, dass Menschen erst nach acht Jahren zu Schmerzspezialistinnen oder Schmerzspezialisten gehen oder an sie überwiesen werden. Das ist bei uns zum Glück nicht ganz so schlimm, weil wir sehr eng mit den Hausärztinnen und den Hausärzten und auch den Spezialistinnen und Spezialisten zusammenarbeiten können. Wir sehen aber durchaus Patientinnen und Patienten, die schon seit 20, 30 oder 40 Jahren an Schmerzen leiden und nun erstmals jemanden konsultieren, der ihre Schmerzen behandelt. Häufig wird sehr lange nach Ursachen gesucht, weshalb in dieser Zeit keine Behandlung erfolgt. Im Prinzip kann die Suche nach der Ursache parallel zur Behandlung laufen. Damit kann man häufig verhindern, dass die Schmerzen chronisch werden.

«D’REGION»: Wie gehen Sie in der Regel vor, wenn Sie Ihre Patienten untersuchen?
Dr. Kleeb: Wir nehmen uns dafür viel Zeit. In der Regel eine Stunde. Im Vorfeld studieren wir, wenn immer möglich, die Unterlagen, die wir erhalten haben und bereiten uns so vor. Zusätzlich schicken wir unseren Patientinnen und Patienten einen Fragebogen, damit sie sich schon Gedanken machen, wie genau sich der Schmerz anfühlt. Bei der Erstkonsultation, also wenn der Patient oder die Patientin erstmals zu uns kommt, stellen wir sehr viele Fragen. Wann haben die Schmerzen angefangen? Gab es einen Unfall oder kamen die Schmerzen schleichend? Hilfreich sind auch Zeichnungen, bei denen ersichtlich ist, wo die Schmerzen lokalisiert sind. Was verschlimmert die Schmerzen? Was können die Betroffenen selber gegen die Schmerzen tun? Welche Medikamente helfen ihnen? Sind die Schmerzen drückend, stechend, brennend oder elektrisch? Können die Patientinnen und Patienten nachts noch schlafen? So erhalten wir viele Informationen über die Herkunft der Schmerzen. Gibt es eine Entzündung? Sind es Nervenschmerzen oder Muskelschmerzen? Sind es die Gelenke im Rücken oder die Nervenwurzeln – oder ist es sogar das Rückenmark selber? Dann untersuchen wir körperlich. Das heisst, dass wir mit unseren Händen fühlen, Bewegungen mit den Patientinnen und Patienten durchführen, Reflexe testen, Pulse spüren. Dadurch entsteht bei uns ein Bild, was es sein könnte. Dies vergleichen wir dann mit den Untersuchungsresultaten – beispielsweise aus dem MRI. Am Ende der ersten Stunde sollten wir uns ein Bild der Krankheit machen und eine Diagnose stellen können. Dass sich Arzt oder Ärztin mit dem Patienten beziehungsweise der Patientin auf eine Diagnose einigen kann, ist nicht immer der Fall. Aufgrund einer Studie weiss man, dass über ein Drittel aller Menschen mit chronischen Schmerzen ihre Diagnose nicht kennen. Das ist nicht gut. Es ist wichtig zu wissen, was los ist. Das ist eines meiner grössten Anliegen.
 
«D’REGION»: Unter welchen Voraussetzungen sind die Erfolgsaussichten am grössten, dass Sie die Schmerzen Ihrer Patienten lindern können?
Dr. Kleeb: Sehr gute Frage. Je kürzer andauernd und je besser lokalisierbar, desto schneller können die Schmerzen wieder verschwinden. Dann kommen die Ressourcen hinzu. Hat jemand genug Zeit, zu uns zu kommen? Zahlt eine Taggeldversicherung, damit die Person sich auch entsprechend ausruhen kann oder die Möglichkeit hat, mit einem gezielten Training zu beginnen, aktiv trainiert – je nach Krankheit? Wenn jemand «nur» über Schmerzen klagt und sonst gesund ist, wird das Ganze einfacher. Bei Nebenerkrankungen – sei es das Herz, die Leber, die Niere oder auch das Gehirn – dürfen nicht alle Medikamente eingesetzt werden. Dies erschwert die Behandlung. Hinzu kommt der Aspekt, wie gut jemand mitmachen kann; je besser und aktiver die betroffene Person die Therapie mitgestalten kann, desto grösser sind die Chancen. Damit meine ich zum Beispiel Sport und Heim­übungen von der Physiotherapie, Ernährungsumstellungen oder Entspannungs­übungen. Beim Lesen eines Buches über Schmerzen erfährt man viel. Das ist vorteilhaft, denn hier erfährt man, wie der «Gegner» aussieht und funktioniert. Hilfreich ist zudem, wenn der Patient beziehungsweise die Patientin Angehörige oder Freunde hat, die sie unterstützen können – beispielsweise mit einer Autofahrt zu einer Infusionsbehandlung. Vielleicht gibt es da und dort auch jemand, der zu Hause massiert oder einen Wickel machen kann. Von Vorteil ist stets auch die Zusammenarbeit mit der Hausärztin oder dem Hausarzt. Wichtig sind auch gute Physiotherapeutinnen und Ergotherapeutinnen. Bei chronischen Schmerzen brauchen Menschen ein Team um sich, um sich selber helfen zu können – mit unserer Unterstützung.

Hans Mathys


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