«Hilfe - ich werde aus dem Spital entlassen»

  21.09.2011 Aktuell, Politik, Wirtschaft, Region, Burgdorf, Gesellschaft

Beide sind bereits seit über 20 Jahren für die Spitäler in Burgdorf und Langnau tätig. Wolfgang Scholz, Leiter des Sozialdienstes der RSE AG, arbeitete zunächst im Pflegebereich. Nach verschiedenen Weiterbildungen absolvierte er ein Studium als Sozialarbeiter und anschliessend als Case-Manager. Die regionale und nationale Entwicklung im Gesundheitswesen hat er also an vorderster Front miterlebt.
Bruno Keel absolvierte sein Studium als Sozialarbeiter an der Universität in Freiburg. Er war unter anderem für Pro Senectute und das Rote Kreuz tätig. Im Alter von 50 Jahren schloss er zusätzlich ein Masterstudium in Berlin mit einer Arbeit zum Thema Menschenrechte ab.
Sowohl Scholz als auch Keel engagieren sich ehrenamtlich in verschiedenen Verbänden im Gesundheitswesen. Insgesamt sind für den Sozialdienst der RSE AG vier diplomierte Sozialarbeiter /innen und ein Auszubildender tätig. «Wir ergänzen uns ideal – da jeder in seiner Ausbildung den Fokus auf andere Themen richtete», erklärt Scholz. «D’REGION» traf sich mit Scholz und Keel zu einem Gespräch.

«D’REGION»: Welche Aufgabenbereiche erfüllen die Sozialdienste?
Wolfgang Scholz: In erster Linie beschäftigen wir uns mit Fragen rund um die Austrittsorganisation von Patientinnen und Patienten. Die Aufgaben, die sich unserem Team in diesem Bereich stellen, sind dabei äusserst vielfältig. Generell lässt sich festhalten, dass im Gesundheitswesen in den 90er Jahren ein Umdenken einsetzte. Angesichts des zunehmenden Spardrucks wurde der Spitalaufenthalt immer mehr verkürzt. Heute setzt die Austrittsplanung bereits beim Eintritt der Patienten ein. Dies führt dazu, dass der Aufenthalt und die Krankheit anders wahrgenommen werden. Der Genesungsprozess kann in eine soziale Krise münden. Der Sozialdienst hat die Aufgabe, für Probleme oder Schwierigkeiten Lösungen zu suchen. Wir sorgen dafür, dass betroffene Personen eine ihren Bedürfnissen entsprechende Nachbetreuung erhalten.
Bruno Keel: Der Sozialdienst im Spital kommt bei sogenannten komplexen sozialen Problemen ins Spiel. Viele Patientinnen und Patienten samt ihrer Familie geraten durch Krankheit, Unfall oder Mutterschaft in soziale oder materielle Schwierigkeiten, die sie nicht allein lösen können. In solchen Situationen tragen wir mit umfassenden Informationen und unserer Unterstützung zur Problemlösung bei.

«D’REGION»: Wird der Sozialdienst oft benötigt?
Keel: Während der Sozialdienst vor 20 Jahren lediglich in 5% aller Fälle in Anspruch genommen wurde, liegt die Quote heute bei knapp 20%. Innerhalb dieses Zeitraums ist die Zahl also auf das Vierfache angestiegen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Da man heute in zunehmendem Masse wesentlich rascher als früher aus dem Spital entlassen wird, nimmt die Unsicherheit oft zu. Gerade ältere Menschen wissen oft nicht, wie sie nach dem kurzen Spitalaufenthalt zurechtkommen sollen. Oft müssen Zwischenlösungen für eine angemessene Nachbetreuung gesucht werden.
Scholz: Die Zahlen widerspiegeln die gesellschaftlichen Veränderungen. Der Sozialdienst im Spital ist eine Art Seismograph für den Zustand einer Gesellschaft. Früher wurden Probleme in der Regel innerhalb der Familie gelöst. Heute ist das familiäre Netz oft nicht mehr so tragfähig. Es wird schneller nach professioneller Hilfe gerufen. Diese können wir anbieten. Wir sind in der Lage, Brücken zu bauen und Türen zu öffnen. Niemand verlässt die RSE AG, ohne dass für eine gute Nachbetreuung gesorgt ist.
Keel: Dabei zählen nicht allein ökonomische Kriterien. Es geht auch um das Menschliche.

«D’REGION»: Wie wird der Sozialdienst in einen Fall involviert?
Scholz: Wir erhalten über ein offizielles Anmeldeblatt eine Meldung des behandelnden Arztes. Dieser hat vorher mit der betroffenen Person oder ihrer Familie gesprochen. In der Regel arbeiten wir nur mit dem Einverständnis der Patienten.

«D’REGION»: Wie gehen Sie dann weiter vor?
Scholz: Zunächst informieren wir uns mittels der Pflege- und Arztdokumentationen über den konkreten Fall. Danach suchen wir das Gespräch mit dem Patienten. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie er seine Situation beurteilt. Die Bedürfnisse dienen uns dann als Kompass für unser weiteres Vorgehen. Im Gespräch wird auch ersichtlich, ob wir unsere Tätigkeit überhaupt aufnehmen müssen. Erst nachdem wir die Erlaubnis vom Patienten erhalten haben, nehmen wir mit seiner Familie Kontakt auf. In komplexen Fällen werden auch Arbeitgeber, Spitex oder andere Organisationen und Personen beigezogen. Aus den verschiedenen Informationen, die wie Teile eines Puzzles sind, ergibt sich ein Gesamtbild von der Situation und wir schreiten zur Analyse. Gemeinsam mit dem Patienten erfolgt die Austrittsplanung. Dabei muss stets geklärt werden, wie viel Fremdhilfe er benötigt. Mit unserer langjährigen Erfahrung und unserem hervorragenden Netzwerk wissen wir genau, welche Möglichkeiten wir dem Patienten anbieten können. Wir stehen in Kontakt zu verschiedenen Kurhäusern, Rehakliniken, Betagten- und Pflegeheimen, der Pro Senectute und Pro Infirmis, den Krankenkassen, der Berner Gesundheit, der Non-Profit-Spitex oder den Sozialdiensten der Gemeinden. Für unsere Arbeit ist es unabdingbar, die Region und ihre Topographie genau zu kennen. Wir müssen uns im Klaren sein, wo und wie die Menschen leben, um die Situation einschätzen zu können. Geographische Kenntnisse sind dabei sehr von Nutzen.

«D’REGION»: Welche Zielsetzungen verfolgt der Sozialdienst?
Keel: Wir versuchen, soziale Dienstleistungen mit dem Gesundheitswesen zu verbinden. Unser Ziel ist es, eine möglichst ganzheitliche Integration der Patienten in Gesellschaft, Familie und Beruf zu erreichen. Trotz Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit oder längerer Rekonvaleszenz soll der Alltag bewältigt werden können. Eine Rehospitalisierung sowie längere Spitalaufenthalte sollen durch eine rasche Klärung der Betreuungssituation vermieden werden. Damit tragen wir zur Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit im Gesundheitswesen bei. Bei Versicherungslücken sind wir bestrebt, eine genügende gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen. Zudem achten wir darauf, dass bei Zwangseinweisungen in ein Heim die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention eingehalten werden. In schwierigen Fällen dieser Art liegt die Entscheidung beim Regierungsstatthalter. Wir sorgen dafür, dass alle Seiten konsultiert werden und die betroffene Person bei Gesprächen eine Person ihres Vertrauens beiziehen kann. Es kommt auch vor, dass Familienmitglieder vorschnell auf die Einweisung eines Verwandten drängen. In solchen Situationen ist es an uns, Fragen zu stellen. Diese werden nicht immer gerne gehört.

«D’REGION»: Befürchten Sie, dass angesichts des Spardrucks im Gesundheitswesen auch der Sozialdienst mit Kürzungen zu rechnen hat?
Scholz: Der Sozialdienst hat als unterstützendes Dienstleistungsangebot eine lange Tradition bei der RSE AG und ist bestens integriert und verankert. Bruno
Keel und ich gehören zu den Urgesteinen des Spitals. Unser Team erfährt viel Wertschätzung von Seiten der Ärzteschaft, der Pflege und der Direktion. Eine funktionierende Austrittsorganisation ist für jedes Spital ausserordentlich wichtig, gerade auch in finanzieller Hinsicht. Dazu tragen wir wesentlich bei. Spart man beim Sozialdienst, schneidet man sich ins eigene Fleisch. Er ist ein wichtiges Rädchen im Getriebe eines gut funktionierenden Gesundheits-
wesens. Markus Hofer\n

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