Peter Balzlis Kolumne «In der Sackgasse»
28.05.2013 AktuellIch lebe in einem Haus, das in einer Sackgasse steht. Vor ein paar Jahren wurde «meine» Strasse für den Autoverkehr gesperrt. Seither kommt man nur noch mit dem Fahrrad und zu Fuss durch. Autos müssen sich von der anderen Seite der Überbauung heran- pirschen. Doch die Adresse meines Hauses blieb auch nach der Verwandlung in eine Sackgasse gleich. Und weil sich heute so viele Leute mit einem Satellitennavigationsgerät fortbewegen, kann ich jeden Tag Besucher und Lieferanten beobachten, die in der Sackgasse stecken bleiben und nicht mehr weiter wissen. Schadenfreude wäre fehl am Platz. Schliesslich bin ich schon stundenlang durch die Stadt gefahren, um Briefe und Pakete abzuholen, welche von Kurieren als «unzustellbar» deklariert wurden, weil sie ihr Satellitennavigationsgerät in die Sackgasse geführt hatte.
«Ich bin in einer Sackgasse», bedeutet meist: Ich stecke in der Klemme, ich bin auf dem falschen Weg, muss umkehren und einen anderen Weg finden. Tatsächlich zeigen Statistiken, dass es in Sackgassen signifikant mehr Kriminalität gibt (aber das ist nicht der Grund, warum man sie auch Stichstrassen nennt). Zudem benutzen Sackgassenbewohner öfter das Auto und haben (wahrscheinlich deshalb) häufiger Übergewicht. 2007 kamen Städteplaner zum Schluss, dass Sackgassen «keinerlei urbane Struktur aufweisen». Sie würden nutzlose Flächen erzeugen, seien ungeeignet für Fussgänger, Radfahrer und Busse. Dazu seien sie für die Polizei schlechter zu überwachen. In der Folge wurden kaum mehr Sackgassen gebaut.
Doch das alles tut der Sackgasse Unrecht. Eine neue Studie aus England zeigt: Die Sackgasse ist weit besser als ihr Ruf. Ganze 88 Prozent der Befragten gaben an, dass sie am liebsten in einem Haus in einer Sackgasse wohnen würden. Zum Vergleich: Nur 73 Prozent möchten an einer Hauptstrasse wohnen, 74 Prozent neben einem Park und nur 81 Prozent in einer Wohnsiedlung. Hauskäufer sind bereit, 20 Prozent mehr für ein Haus zu bezahlen, wenn es in einer Sackgasse steht.
Der Hauptgrund ist, dass sich offenbar in einer Sackgasse die Menschen besser kennen. In Sackgassen sprechen Nachbarn öfter miteinander, unterschreiben füreinander, wenn der Briefträger ein Paket anliefert, leihen sich Werkzeug aus oder laden sich auf eine Tasse Tee ein. Und: Sackgassen sind ruhiger und sicherer für Kinder. Der Schriftsteller A.A. Milne schrieb seine herzerwärmenden «Winnie the Pooh»-Bücher (deutsch: Pu der Bär) in einer Sackgasse. Kürzlich pries der britische Fernsehstar Vanessa Feltz die «gebärmutterförmigen Sackgassen», in denen «das Leben floriert». Und fast selbstverständlich liegt auch Downing Street 10, der Amtssitz des britischen Premierministers, in einer Sackgasse.
Im Oktober werde ich zurück in die Schweiz ziehen. Weg aus meiner Sackgasse in eine ganz normale Quartierstrasse, die von beiden Seiten her befahrbar ist. Soll ich mich jetzt freuen oder mir Sorgen machen?

