«Die Bandscheibe – ein Puffer, der müde wird»
07.06.2016 Aktuell, Bildung, Burgdorf, GesellschaftEin letztes Mal vor der Sommerpause findet übermorgen Donnerstag, 9. Juni 2016, 19 bis 20 Uhr, im Spital Emmental Burgdorf ein Publikumsvortrag statt, ehe die Serie dieser öffentlichen Vorträge dann im September fortgesetzt wird. «Die Bandscheibe – ein Puffer, der müde wird», heisst das Thema, zu welchem sich Prof. Dr. med. Paul Ferdinand Heini und Dr. med. Regula Teuscher äussern werden. Der Anlass ist wie gewohnt gratis – und im Anschluss stehen die beiden Referenten während des offerierten kleinen Apéros auch noch «bilateral» zum Beantworten von Fragen zur Verfügung.
«D’REGION»: Sie sind Belegarzt am Spital Emmental und werden den Publikumsvortrag mit Dr. med. Regula Teuscher gestalten. Haben Sie abgesprochen, wer worüber sprechen wird?
Prof. Heini: Es gibt keine spezifische Aufteilung, sondern eine gemeinsame Präsentation zum Thema Bandscheibe. Wir werden aufzeigen, wie die Bandscheibe aufgebaut ist, wie sie funktioniert, wo die Schwachstellen sind – und schliesslich, welche klinischen Probleme damit verbunden sind: Rückenschmerzen, Beinschmerzen – Ischias – beim Bandscheibenvorfall. Wir werden anhand einer Altersverteilung auch erläutern, wer hauptsächlich betroffen ist.
«D’REGION»: Wie kann sich der Laie den Aufbau und die Funktion der Bandscheiben vorstellen, und wo genau befinden sich diese?
Prof. Heini: Wir haben insgesamt 23 Bandscheiben in der Wirbelsäule. Die Bandscheiben sind jeweils zwischen den Wirbeln vom 2. Halswirbel bis zum Kreuzbein lokalisiert. Die Bandscheibe ist ein Puffer und Bewegungsorgan, welches die Wirbelsäule beweglich hält. Die Bandscheiben bestehen aus einem so genannten Gallertkern – Nucleus pulposus – und einem Mantel – Annulus fibrosus –, der diesen Kern zusammenhält. Das ist wie bei einem Pneu. Der «luftgefüllte» Schlauch sorgt für die Elastizität, der Mantel für die Integrität. Auch die Bandscheibe hat einen inneren Druck, der natürlich geringer ist, wenn man liegt, und zunimmt, wenn man beispielsweise eine Harasse hebt.
«D’REGION»: Mit welchen Veränderungen der Bandscheiben muss man im Alter rechnen – und weshalb?
Prof. Heini: Die Bandscheibe ist das grösste «Organ» des Körpers, das keine eigentliche/eigene Durchblutung hat. Die Bandscheibe kann sich nicht regenerieren. Mit Abschluss des Wachstums ist auch für die Bandscheiben der «Frühling» vorbei. Der «Sommer» kann dann unterschiedlich lange andauern. Das bedeutet, dass die Situation lange Zeit ohne Problem funktionieren kann. Dies ohne Funktionsverlust – je nach genetischer Disposition. Zu den persönlichen Risikofaktoren zählen Übergewicht, Rauchen und schwere körperliche Arbeit. Es gibt 80-Jährige mit noch wunderschönen Bandscheiben. Im Durchschnitt jedoch verliert die Bandscheibe mit dem Alter ihre Elastizität. Man sagt landläufig, die Bandscheibe verliert an Wassergehalt. Dann kann auch der Mantel ermüden. Er bekommt Risse – und dann kann der Gallertkern durch solche Risse austreten und gegebenenfalls auf einen Spinalnerv drücken – Diskushernie.
«D’REGION»: Sind eher Frauen oder Männer mit Bandscheiben-Problemen konfrontiert?
Prof. Heini: Eine Geschlechtspräferenz besteht nicht. Das klassische Bandscheibenproblem ist der Bandscheibenvorfall – die Diskushernie. Damit kann ein Spinalnerv unter Druck geraten und Schmerzen – aber auch eine Lähmung – provozieren. Die Häufigkeit von Diskushernien ist altersabhängig. Am häufigsten sind diese im Alter zwischen 30 und 60 Jahren vorhanden. Dann ist der Kern noch einigermassen gross und der Mantel teilweise schon rissig, sodass Bandscheibenmaterial austreten kann. Bandscheibenhernien sind am häufigsten im Bereich der Lendenwirbelsäule – und dort vor allem zwischen dem 4. und dem 5. Lendenwirbel, gefolgt von L5-S1. Dies weil dort die grösste Bewegung stattfindet und auch die Belastung am grössten ist. Im Bereich der Halswirbelsäule sind Diskushernien etwa zehnmal seltener. Dort ist das am meisten betroffene Segment zwischen dem 5. und dem 6. Halswirbel. Dies auch wieder deshalb, weil dieses am meisten Beweglichkeit aufweist und entsprechend mehr belastet wird.
«D’REGION»: Was genau geschieht bei einem Bandscheibenvorfall?
Prof. Heini: Die Abnützung der Bandscheibe betrifft den Kern und den Mantel. Es kann entweder der Mantel zunehmend ausgewalkt werden und hervorquellen oder es kann durch einen Riss im Mantel der Kern der Bandscheibe in den Spinalkanal austreten und einen Nerv komprimieren.
«D’REGION»: Mit welchen Geräten und Instrumenten lässt sich die Diagnose «Bandscheibenvorfall» stellen?
Prof. Heini: Patienten mit einem Bandscheibenvorfall schildern in der Regel eine sehr typische Geschichte. Meist beginnt das Ganze mit einem lokalen Schmerz im Kreuz, der sich dann zunehmend in das Bein verlagert, weil eben der Spinalnerv (Ischias) komprimiert wird. Das heisst, man kann schon anhand der Anamnese die Vermutungsdiagnose stellen. Die Untersuchung der Wahl ist dann die Magnetresonanztomograhie (MRI), also die Untersuchung in der Röhre. Dort kann man die Bandscheibenverhältnisse präzise beurteilen und auch die Nervenverläufe im Spinalkanal zuverlässig verfolgen.
«D’REGION»: Kommen die Patienten via Hausarzt zu Ihnen – und sind es vorwiegend starke Schmerzen, die zum Arztbesuch führen?
Prof. Heini: Hier im Emmental ist es in der Regel der Hausarzt, der die Patienten primär beurteilt und zu einem grossen Teil auch behandelt. Häufig verschwinden die Beschwerden von alleine innerhalb von 3 bis 4 Wochen.
«D’REGION»: Welches sind die Symptome, die einen raschen Arztbesuch als angezeigt erscheinen lassen?
Prof. Heini: Bei sehr starken Schmerzen oder einer Schwäche im Bein ist eine rasche Abklärung und gegebenenfalls auch eine operative Behandlung angezeigt. Nervenschmerzen können so zermürbend/heftig sein, dass keine Medikamente mehr helfen. Dann kann die chirurgische Entlastung der Nerven – die Entfernung des Vorfalles – rasche Abhilfe schaffen. Bei einer starken Lähmung ist die chirurgische Behandlung auch indiziert, damit der Spinalnerv sich rascher erholen kann.
«D’REGION»: Was ordnen Sie bei einem Bandscheibenvorfall in der Regel an, damit die Schmerzen abklingen: Schonung, Entlastung, Wärmeanwendung, Medikamente, Physio?
Prof. Heini: Wir beginnen mit den Hausmitteln – Paracetamol als einfachstes Schmerzmittel. Als nächste Stufe folgen Entzündungshemmer. Häufig ist kurzfristig eine hoch dosierte Kortisonbehandlung nützlich. Bei verspannten Muskeln ist die Physiotherapie hilfreich. Gelegentlich hilft auch ein leichtes Ziehen an der Wirbelsäule.
«D’REGION»: Nützt alles nichts und die Schmerzen dauern an – ist dann eine Operation sinnvoll?
Prof. Heini: Das Swiss Medical Board hat kürzlich ein Grundsatzpapier zur Behandlung von Bandscheibenvorfällen publiziert, das die operative Behandlung kritisch beurteilt. Generell ist es klar, dass man bei Beschwerden in Zusammenhang mit einer Diskushernie nicht operieren muss. Weit über 50 Prozent aller Bandscheibenvorfälle verschwinden von alleine innerhalb von zwei bis drei Monaten. Eine schwere oder zunehmende Lähmung und anderweitig nicht zu kontrollierende Schmerzen sind aber klare Kriterien für eine operative Behandlung. Hier gilt es, individuell die Situation zu erörtern. Die persönliche Situation des Patienten, aber auch die morphologischen Besonderheiten des Vorfalles sind von Relevanz.
«D’REGION»: Stimmt es, dass eine Operation relativ selten ist – nur in rund zehn Prozent der Bandscheibenvorfälle?
Prof. Heini: Wenn man grosse Gruppen anschaut, mag das zutreffen. Von jenen Patienten, die wir wegen eines Bandscheibenvorfalls in der Sprechstunde sehen, wird ein Drittel operiert. Die anderen zwei Drittel werden konservativ behandelt. Ergänzend zur medikamentösen Therapie helfen gezielte Kortison-Einspritzungen in den Spinalkanal oder rund um den Spinalnerv, um die Beschwerden zu beruhigen.
«D’REGION»: Sollte jemand mit extrem starken Schmerzen – verbunden gar mit Lähmungserscheinungen, Störungen nach der Blasen- oder Darmentleerung – sofort operiert werden?
Prof. Heini: Diese Symptome sind zum Glück selten, stellen aber einen dringlichen Notfall dar. Wenn ein so genannter Massenprolaps die Nervenstränge so stark komprimiert, dass eine schwere Lähmung mit Störung von Blase/Mastdarm einhergeht, muss man diese Nerven möglichst rasch entlasten, damit sie sich wieder erholen können. Hier sprechen wir von Stunden!
«D’REGION»: Welche Rolle spielt beim Bandscheibenvorfall die Arthrose?
Prof. Heini: Keine im engeren Sinn, wenn wir bei der klassischen Diskushernie bleiben. Umgekehrt sprechen die Franzosen von der «disc-arthrose». Das heisst, dass die Degeneration der Bandscheibe und jene der Facettengelenke – Facetten-Arthrose – demselben Prizip unterliegen und in einer gewissen Wechselwirkung stehen. Die Spätfolgen dort sind dann der enge Spinalkanal – die Spinalstenose.
«D’REGION»: Manchmal sieht man – vor allem auch im Emmental – ältere Leute mit extrem krummer Körperhaltung. Hätte dieses Nachvorne-Beugen bei rechtzeitiger ärztlicher Behandlung vermieden werden können?
Prof. Heini: Nein. Dies ist ein multifaktorielles Problem. Einerseits verliert Mann/Frau durch den Verlust der Bandscheibenhöhe an Haltung. Zusätzlich verliert der Mensch mit dem Alter Muskelmasse – Sarkopenie. Das bedeutet, dass man die Verkrümmung nicht mehr muskulär kompensieren kann. Last but not least können zusätzlich noch Wirbelbrüche in Zusammenhang mit der Osteoporose auftreten.
«D’REGION»: Gibt es Tipps bezüglich Prophylaxe, wie Bandscheibenvorfälle eingeschränkt werden können?
Prof. Heini: Keep slim and fit! Zum Teil spielen genetische Faktoren mit. Im Emmental begegnen wir zum Beispiel der Scheuermannschen Erkrankung viel häufiger als in der Stadt. Dann aber sind in der Tat einige Risikofaktoren zu nennen, die man persönlich beeinflussen kann.
Zu den Personen
Prof. Dr. med. Paul Ferdinand Heini ist seit 2009 am Spital Emmental Burgdorf als Belegarzt tätig. Er ist Facharzt für orthopädische Chirurgie und Wirbelsäulenchirurgie. Von 1996 bis 2009 war er Leiter Wirbelsäulenchirurgie am Inselspital in Bern. Seither führt er eine eigene Praxis – die Klinik Sonnenhof in Bern.
Dr. med. Regula Teuscher ist Fachärztin FMH für orthopädische Chirurgie und Traumatologie. Sie ist schon seit über 10 Jahren Oberärztin am Spital Emmental – seit 2010 Wirbelsäulenchirurgin in Burgdorf und Bern.
Hans Mathys