Sinn und Unsinn von Krafttraining
04.02.2018 Bildung, Sport, Foto, BurgdorfIm Anschluss an den rund 60 bis 75 Minuten dauernden Vortrag über den «Sinn und Unsinn von Krafttraining» besteht die Möglichkeit, den beiden Fachleuten «bilateral» Fragen zu stellen. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Das Spital Emmental offeriert einen alkoholfreien Apero.
«D’REGION»: Wie werden Sie den Publikumsvortrag «Sinn und Unsinn von Krafttraining» gestalten?
Kay-Uwe Hanusch: Der Vortrag wird in zwei Teile aufgegliedert sein, welche von den Vortragenden individuell gestaltet werden. Ich werde mit dem Publikum in die Welt der Muskelphysiologie eintauchen und den Bereich der Muskelfunktion, dem Energiestoffwechsel in den Muskeln, die Trainingsmethoden und diverse Mythen des Krafttrainings beleuchten. Daraus leitet sich automatisch der Sinn und Unsinn von Krafttraining ab. Susanne Neuenschwander wird das breite Spektrum des Krafttrainings speziell in der Physiotherapie in verschiedenen Bereichen präsentieren. Durch diese verschiedenen Beispiele wird der Zusammenhang zwischen Ziel und Wahl der Krafttrainingsmethode besonders nachvollziehbar.
«D’REGION»: In welchen Fällen ist Krafttraining sinnvoll und wann ist es unsinnig?
Susanne Neuenschwander: Weil Krafttraining verschiedene Formen des muskulären Trainings beinhaltet, kann man das so nicht pauschalisieren. Aber wenn Ziel und Methode nicht aufeinander abgestimmt wurden, ist jegliches Training unsinnig. Ebenfalls nicht sinnvoll ist, wenn der Trainingsreiz zu hoch oder zu tief ist und/oder wenn die Regenerationszeit ungenügend auf das Training abgestimmt ist. Dann besteht schlimmstenfalls sogar eine Verletzungsgefahr.
«D’REGION»: Fitnesscenter zu besuchen, liegt im Trend. Was gilt es zu beachten, wo liegen die Gefahren?
Kay-Uwe Hanusch: Hier sind vor allem die medizinischen Hintergründe zu berücksichtigen. Die physiologischen Voraussetzungen sind bei Patienten mit Erkrankungen beziehungsweise nach Verletzungen andere als bei Gesunden, welche gern präventiv etwas für ihre Gesundheit leisten wollen oder auf ein bestimmtes Ziel hintrainieren.
«D’REGION»: In welchen Fällen schadet das Stemmen von Gewichten mehr, als es nützt?
Susanne Neuenschwander: Dafür gibt es mehrere Beispiele: Wenn ein zu hoher Trainingsreiz die Belastbarkeit der zu trainierenden Struktur übersteigt, kann die Muskulatur sowie auch die Muskel-Sehnen-Verbindung oder das Gelenk verletzt werden. Wichtig sind ein adäquater Belastungsaufbau sowie eine gute Bewegungskontrolle – sprich eine saubere Bewegungsausführung. Wenn die Regenerationszeit ungenügend auf das Training abgestimmt ist und ein erneuter, wiederholter Trainingsreiz zu früh gesetzt wird, kann dies zu Gewebeabbau, Ermüdung, Leistungsabfall und ernsthaften Verletzungen führen. Wenn Pathologien beziehungsweise Erkrankungen missachtet oder falsch ins Training integriert werden, kann dies problematisch sein.
«D’REGION»: Für Spitzensportler ist Krafttraining – in der Regel mit Betreuung – oft ein Muss. Sollten sich Hobby- oder Nicht-Sportler nur mit einer betreuenden Person an die Geräte wagen?
Kay-Uwe Hanusch: Davon bin ich überzeugt. Spitzensportler kennen ihren Körper, haben ein ausgeprägtes Bewegungsgefühl und werden dennoch unter Betreuung trainiert. Warum sollten wir dann diese Kompetenz von Bewegungslaien erwarten? Zumindest wird am Anfang – bis die Person selbstständig trainieren kann – eine Betreuung notwendig sein. Krafttraining ist nicht nur eine Aktivität, sondern muss auch als Lernprozess verstanden werden.
«D’REGION»: Welche Sportarten empfehlen Sie solchen Hobby- oder Nicht-Sportlern, die sich fit halten, jedoch mit Rücksicht auf ihre Gelenke eine zu starke Belastung vermeiden wollen?
Kay-Uwe Hanusch: Jetzt erwarten Sie sicher Empfehlungen wie Schwimmen und Radfahren. Da der Körper in der Lage ist, sich permanent an Belastungssituationen anzupassen, kann man diese Frage wissenschaftlich nicht pauschal beantworten. Es kommt dabei immer auf die Situation, die körperlichen Voraussetzungen und das Ziel des Trainings an. Es kann ja auch das Ziel sein, nicht belastbare Strukturen in ihrer Belastbarkeit wieder zu erhöhen, wie es aktuell zum Teil bei bestimmten Graden der Osteoporose gehandhabt wird – und die Patienten mit dieser Erkrankung sogar gezielt kontrollierte Sprünge ausführen müssen. Entlastungen der Strukturen führten bei diesen Patienten eher zu einer Verschlechterung der Erkrankung.
«D’REGION»: Beim Krafttraining kann man sich schon mal einen Muskelkater einhandeln. Wie entsteht dieser, und wie wird man ihn baldmöglichst wieder los?
Susanne Neuenschwander: Muskelkater entsteht durch kleinste Mikroverletzungen in der Muskelzelle, genannt Sakromere. Man geht davon aus, dass genau diese Mikroverletzungen aber notwendig sind, um die Struktur des Muskels zu verändern und Trainingseffekte auszulösen. Es gibt sehr viele Untersuchungen zu Methoden, wie man den Muskelkater am schnellsten loswird. Beim Frauenfussball-Nationalteam U19 haben wir mit Eisbädern, Kompressionshosen, Dehnen und tief dosiertem Training auf dem Velo gearbeitet. In der Literatur gibt es aber keine deutlichen Aussagen, dass Kältebäder, Kompression oder Dehnen wirklich helfen. Ich würde vor allem die aktive Erholung in Form von aerober Belastung empfehlen.
«D’REGION»: Wenn jemand im Fitnesscenter bis zur Erschöpfung trainiert, kann es gefährlich werden. Welche Ratschläge erteilen Sie «Fitness-Aposteln», die ihre Leistungsgrenze ausreizen?
Susanne Neuenschwander: Training bis zur völligen Erschöpfung ist nicht per se ungesund, sondern manchmal sogar das Ziel. Entscheidend ist das Beachten von Regenerationszeiten. Ich würde mir anschauen, in welchem Bereich der Trainierende sich ausbelastet und dann diese Muskelgruppe entsprechend lange pausieren und regenerieren. Wenn jemand heute seine Beine völlig ausbelastet hat, kann er morgen auf dem Velo ein tief dosiertes Regenerationstraining durchführen und gleichzeitig seine Armmuskulatur hochdosiert trainieren.
«D’REGION»: Wie sieht es mit den Erholungszeiten aus – macht der tägliche Besuch eines Fitnesscenters für Spitzensportler, Hobby- und Nicht-Sportler gleichermassen Sinn oder ist das Mumpitz?
Susanne Neuenschwander: Die Erholungszeiten bleiben sich entsprechend dem Trainingsreiz gleich – egal, ob jemand Spitzen- oder Hobby-Athlet ist. Wenn jemand täglich das Fitnesscenter besuchen möchte, kann er dies durchaus tun. Wichtig ist beim intensiven Krafttraining, dass nicht täglich die gleiche Muskelgruppe belastet wird und auch Regenerationseinheiten eingeplant werden.
«D’REGION»: Wird Krafttraining am Spital Emmental oft auch nach Operationen im Sinne eines Muskelaufbaus empfohlen?
Susanne Neuenschwander: Es hängt sehr von der Verletzung, dem operierten Gewebe und der Operationsart ab, welches Training wann zu empfehlen ist. Sehr oft ist ein Muskelaufbau zwingend. Wichtig ist aber, dass man die Eigenschaften der operierten Struktur gut kennt und die Wundheilung des Gewebes berücksichtigt. Das heisst zum Beispiel: Eine operierte Sehne an der Schulter kann viel später mit Gewicht belastet werden als ein unkomplizierter Knochenbruch am Schlüsselbein, der gut verheilt ist. In beiden Fällen ist aber ein spezifischer Kraftaufbau zwingend, weil durch die Ruhigstellung direkt nach der Operation / Verletzung sehr viel Muskulatur verloren geht.
«D’REGION»: Sie leiten beide – ob in Burgdorf oder in Langnau – die Physiotherapie. Was bietet das Spital Emmental hier an, und welches sind allfällige Vorteile gegenüber Fitnesscentern?
Kay-Uwe Hanusch: Wir haben keine Vorurteile gegenüber Fitnesscentern. Im Gegenteil. Wir sind sogar froh, dass viele Fitnessinteressierte sich in die Hände von Fachpersonen wie Fitnesstrainern oder Sportphysiotherapeuten begeben. Das Wachstum der Fitnessbranche zeigt unter anderem auch, dass die Schweizer bereit sind, Eigenvermögen in Gesundheit zu investieren – ganz zur gegenteiligen Behauptung von diversen Verbänden, das Gesundheitssystem wäre für alle nur ein Selbstbedienungsladen zulasten der Kostenträger. Wir sehen unsere Kompetenz gegenüber Fitnesscentern – ob für Spitzensportler oder Bewegungsinteressierte – eher im Bereich der Betreuung bei Trainierenden mit klinischen Hintergründen, können aber auch Empfehlungen für Gesunde abgeben. Kritisch sehen wir, die in einigen Fitnesscentern durchgeführten One-size-fits-all-Programme wie Milon-Zirkel, Kieser-Training oder five-Konzept, welche wissenschaftlich nur dünn oder gar nicht begründet sind.
Zu den Personen
Cand. scient. med. Kay-Uwe Hanusch, Jahrgang 1972 und wohnhaft in Burgdorf, ist Schmerzspezialist SGSS und Sportphysiotherapeut SGEP. Er leitet standortübergreifend die Abteilung Physiotherapie am Spital Emmental seit September 2015. Die Physiotherapieausbildung schloss er 1997 in Leipzig ab. Seit 2000 betreibt er parallel Forschungstätigkeit im Bereich der angewandten Therapiewissenschaften. Weitere Eckpfeiler: 2013 Masterstudium in klinischer Psychoneuroimmunologie an der Universitad de Girona (Spanien). 2014 scientific advisor (Arizona-Studie Hyperthermie bei Depressionen) University of Arizona-Department Psychiatry (USA). Seit 2015 Doktorat (PhD) der medizinischen Wissenschaften an der privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein. Er ist Autor wissenschaftlicher Publikationen. Hinzu kommen Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen (Fresenius Frankfurt und Idstein, CAREUM Zürich, ZHAW Winterthur). Kay-Uwe Hanusch betrieb 17 Jahre Spitzensport im Kunstturnen und gehörte dem DDR-Nationalkader an.
Susanne Neuenschwander ist Physiotherapeutin FH und Sportphysiotherapeutin SPT. Die Physiotherapieausbildung schloss sie 2008 in Bern ab. Sie arbeitet seit Dezember 2008 am Spital Emmental. Bis 2014 tat sie dies am Standort Burgdorf als Ausbildungsverantwortliche und stellvertretende Abteilungsleiterin. Seither ist sie Standortleiterin Physiotherapie am Standort Langnau. Als Sportphysiotherapeutin betreute sie zwischen 2010 und 2016 die U19-Frauenfussball-Nationalmannschaft.
Hans Mathys