Depressionsgefahr bei chronischen Schmerzen

  10.09.2018 Aktuell, Foto, Bildung, Burgdorf, Region

 Der Referent, der früher in der DDR Spitzensport betrieb, leitet am Spital Emmental seit September 2015 die Abteilung Physiotherapie.

«D’REGION»: Worauf werden Sie den Fokus Ihres Publikumsvortrags «Schmerzphysiotherapie» legen?
Kay-Uwe Hanusch: Der Schwerpunkt meines Vortrages liegt vor allem im Verständnis der Entstehung und des Umgangs mit chronischen Schmerzen. Es ist das primäre Ziel, ein Bewusstsein zu schaffen, dass man chronische Schmerzen von akuten Schmerzen trennen muss.

«D’REGION»: Sie sind am Spital Emmental Abteilungsleiter Physiotherapie. Kommen in der Regel Patienten mit chronischen Schmerzen via Hausarzt zu Ihnen?
Kay-Uwe Hanusch: Die Patienten kommen durch Überweisung via Verordnung von den Hausärzten der Region, von Fachärzten des Spitals oder durch Selbsteinweisung. Manche Patienten werden auch von anderen Physiotherapeuten zu uns geschickt, wenn die «normale» Physiotherapiebehandlung keine Fortschritte erzielte. Das betrifft dann meistens Patienten mit einer komplizierten, langen Leidensgeschichte. In solchen Situationen geben wir eine Beratung ab und helfen bei der Therapieplanung. Der Patient wird weiterhin durch seinen angestammten Physiotherapeuten betreut.

«D’REGION»: Als chronische Schmerzen gelten solche, die länger als drei bis sechs Monate andauern. Welcher Art sind jene Schmerzen, mit denen Patienten am Spital Emmental therapeutische Hilfe suchen?
Kay-Uwe Hanusch: Diese Definition der chronischen Schmerzen steht in der Wissenschaft stark unter Kritik. Die Fokussierung der Definition auf die Zeitdauer des Bestehens der Schmerzen entspricht nicht dem physiologischen Entstehungsmuster chronischer Schmerzen. Die Ausweitung von Schmerzen auf verschiedene Körperzonen ist ein Hinweis auf sich verändernde Prozesse. Hierbei sind im Netzwerk der Nerven oft die Systeme von Schmerzverarbeitung und Schmerzhemmung gestört. Ausschlaggebend dabei ist, dass sich ein neues «Schmerzbild» entwickelt, welches sich nicht immer einer schweren Verletzung beziehungsweise Erkrankung zuordnen lässt. Die Schmerzen unserer Patienten sind sehr vielfältig, von akut bis chronisch. Sie können somatoform auftreten, als körperliche Beschwerden, die nicht einer organischen Erkrankung zugeordnet werden können, oder neuropathisch, als Folge einer Störung im Nervensystem selbst. Meistens erscheinen sie aber in Kombination, als «mixed pain».

«D’REGION»: In der Schweiz seien über eine Million Menschen von chronischen Schmerzen betroffen. Können Sie sich diese erstaunlich hohe Zahl erklären?  
Kay-Uwe Hanusch: Solche allgemeinen Statistiken sind immer schwierig zu interpretieren und stark auf Verzerrungen anfällig. Ich denke, diese Zahl  ist nicht realistisch, da mir jedenfalls nicht jeder achte Schweizer – 12,5 Prozent – schmerzgeplagt im Alltag begegnet. Aber tatsächlich wird in einer aktuellen Arbeit von 16 Prozent betroffenen Schweizern berichtet. Diese hohe Zahl ist vermutlich bedingt durch die in der Kritik stehende offizielle Definition von chronischen Schmerzen, die sich ausschliesslich an der Dauer der bestehenden Schmerzen orientiert.

«D’REGION»: Ist die Tendenz des Auftretens chronischer Schmerzen steigend – und wenn ja, worauf führen Sie dies zurück?
Kay-Uwe Hanusch: Wir stellen tatsächlich eine steigende Tendenz des Auftretens chronischer Schmerzen fest. Über die Ursachen kann man allerdings nur philosophieren. Ich denke, dass der veränderte Lebensraum der Menschen sowie Strategien im Gesundheitswesen hauptsächlich dazu beitragen. Noch nie haben die Menschen in den Wohlstandsgebieten der Welt so sicher und in einem solchen Überfluss gelebt wie heute. Unser Körper hat hingegen ausschliesslich Mechanismen entwickelt, um sich gegen Mangel und Gefahrenstress zur Wehr zu setzen. Dadurch stehen sich Physiologie und Umwelt diametral gegenüber. Die Zunahme von Stress, Angst und Depressionen in unserer Gesellschaft könnte ein weiterer Auslöser sein. Immerhin geben 25 Prozent der Schweizer in einer aktuellen Umfrage leichte bis mittelgradige depressive Symptome an. Beide Erkrankungen – chronischer Schmerz und Depressionen – stehen in starker Abhängigkeit zueinander. Depressive Leute entwickeln öfters eine chronische Schmerzerkrankung. Dauerhaft bestehende Schmerzen können aber auch zu einer reaktiven Depression führen.

«D’REGION»: Werden durch die steigende Zahl chronischer Schmerzen tendenziell mehr Leistungen der Schmerzphysiotherapie in Anspruch genommen, und welche Auswirkungen sehen Sie in Sachen Kosten des Gesundheitswesens?
Kay-Uwe Hanusch: Ja, die Inanspruchnahme der Schmerzphysiotherapie ist bei uns tendenziell steigend. Das heisst aber nicht, dass die Behandlungen teurer werden müssen, im Gegenteil. Wir arbeiten konzeptiv, das heisst, wir überlegen uns vor der Therapie, wer wann was macht. Dadurch werden Patienten mit chronischen Schmerzen weniger technischen Untersuchungen ausgesetzt, sie reduzieren die Besuche in den Notaufnahmen, gehen nicht von Facharzt zu Facharzt und haben eine reelle Chance, ihre Schmerzen beeinflussen zu lernen.
 
«D’REGION»: Wann sollten von Schmerzen geplagte Menschen den Arzt aufsuchen – sofort?
Kay-Uwe Hanusch: Wenn eine Schmerzsituation auftritt, gibt es mehrere Kriterien für einen Arztbesuch. Zum Beispiel wenn sich ein Schmerz innerhalb einer Woche in der Intensität verstärkt oder konstant intensiv bleibt, der Schmerz sich örtlich und/oder räumlich verändert, oder wenn weitere Schmerz­auslöser wie Kälte, Hitze oder Berührung hinzukommen. In der Regel reicht der Hausarzt im ambulanten Setting völlig aus, da er den Patienten am besten kennt. Er kann dann auch entscheiden, was weiter zu tun ist. Der Spitalnotfall ist ausschliesslich für nicht tolerierbare, hochintensive Schmerzen die richtige  Anlaufstelle. Spezialisierte Schmerzmediziner sollten in der Regel nur auf Zuweisung aufgesucht werden.

«D’REGION»: Wie kann sich der Laie Ihren Job vorstellen – erhalten Sie von Spitalärzten die Diagnosen der Patienten und Sie erstellen dann von sich aus eine Art Therapieplan für Ihr Physio-Team?
Kay-Uwe Hanusch: Das kann je nach Schmerzsituation ganz unterschiedlich aussehen. In der Regel kommen die Patienten von Ärzten oder Physiotherapeuten zuerst zu einem physiotherapeutischen «Schmerzkonsil», in welchem der Schmerzphysiotherapeut die Schmerzen differenziert und charakterisiert sowie einen Therapieplan erstellt. Je nach Situation werden die Patienten dann mit Therapieempfehlungen an die Physiotherapeuten zurückverwiesen, in der Schmerzphysiotherapie selbst behandelt, einem Schmerzmediziner zum gemeinsamen Konsil vorgestellt oder in die Komplexität einer Trias-Strategie – Schmerzmediziner, Schmerzphysiotherapeut und Psychologe – eingebunden. Dies im Sinne des «bio-psycho-sozialen» Erklärungs- und Behandlungsmodells.
 
«D’REGION»: Kommt es häufig vor, dass Ihre Patienten unter Bewegungs­angst leiden, weil sie vermuten, die Schmerzen – beispielsweise am Rücken – könnten sich verstärken?
Kay-Uwe Hanusch: Man muss hier Angst ein bisschen differenzierter betrachten. Hier geht es vor allem um ein erlerntes Angst-Vermeidungsverhalten. Schmerzpatienten erleben häufig in Selbstbeobachtung, dass Schmerzen bei Bewegung und Belastung ausgelöst oder verstärkt werden und entwickeln dabei Strategien der langfristigen Bewegungsvermeidung. Diesem Bewegungsvermeiden tritt man vor allem mit Aufklärung und einem motivierenden, graduierten Training, also Übungen mit angepasstem, steigendem Schwierigkeitsgrad, entgegen. Dies idealerweise innerhalb einer Gruppentherapie.

«D’REGION»: Im Internet preisen sich Praxen für Schmerzphysiotherapie mit besonderen Konzepten an – beispielsweise mit einem Neuromedizin-Konzept. Ihre Meinung dazu?
Kay-Uwe Hanusch: Weder der Begriff «Schmerzphysiotherapie» noch die diesbezügliche Ausbildung ist geschützt oder an gesetzliche Anforderungen geknüpft. Daher ist es im heutigen Konkurrenzkampf auf dem Gesundheitsmarkt legitim, dass von Praxen diese Bezeichnung für die Anwerbung von Patienten genutzt wird. Eine Schmerzphysiotherapie kann aber auf keinen Fall ein manuell isoliertes Behandlungskonzept sein. Chronische Schmerzen langfristig erfolgreich zu behandeln, ist meist eine sehr zeitaufwendige Angelegenheit und bedarf einer interdisziplinären Anstrengung in einem guten Therapeuten-Netzwerk. Ziel ist es, gemeinsam mit dem Patienten auf die «Selbstwirksamkeit» hinzuarbeiten. Eine Einzeltherapie durch einen selbst ernannten Spezialisten ist immer kritisch zu bewerten – gerade wenn unseriöse Heilversprechen gemacht werden. Dadurch erzielte Erfolge sind meist nur von kurzer Dauer. Chronische Schmerzen können nur multimodal seriös behandelt werden, durch das Zusammenwirken verschiedener Fachgebiete. Und mit viel Geduld.

«D’REGION»: Was raten Sie Schmerzphysiotherapie-Patienten primär – Geduld haben und zuversichtlich sein, um das Therapieziel, eine bessere Lebensqualität, Schritt für Schritt zu erreichen?  
Kay-Uwe Hanusch: Meine Empfehlungen an chronische Schmerzpatienten sind immer die gleichen: Setzen Sie sich mit Ihrem Schmerz als einem Teil von Ihnen auseinander, wenden Sie Ihren Blick zum Schmerz weg von der Zukunft in das Hier und Jetzt, und gewichten Sie massgeblich auch noch so kleine Erfolge positiv. So kommt man Schritt für Schritt zu einer persönlichen Lösung.

«D’REGION»: In der Agenda des Spitals Emmental steht «Teil 1» bei Ihrem Schmerzphysiotherapie-Vortrag. Wann ist der zweite Teil vorgesehen, und worin wird sich dieser vom ersten Teil unterscheiden?
Kay-Uwe Hanusch: Im zweiten Teil der Schmerzphysiotherapie liegt der Fokus auf dem Bereich der somatoformen Schmerzen. Das sind körperliche Beschwerden, die nicht einer organischen Erkrankung zugeordnet werden können. Früher sprach man von «psychosomatischen» Schmerzen. Dieser Bereich muss getrennt von den chronischen Schmerzen betrachtet werden. Der Vortrag findet im Frühjahr 2019 statt.

Zur Person
Cand. scient. med. Kay-Uwe Hanusch (Jahrgang 1972) leitet als Schmerzspezialist SGSS und Sportphysiotherapeut SGEP am Spital Emmental die Physiotherapie. Er wohnt in Burgdorf. Während 17 Jahren gehörte er als Spitzensportler in der DDR dem Nationalkader der Kunstturner an. 1997 schloss er in Leipzig seine Physiotherapieausbildung ab. Seit 2000 befasst er sich parallel mit Forschungstätigkeiten im Bereich der angewandten Therapiewissenschaften. Weitere Meilensteine folgten 2013 mit dem Masterstudium in klinischer Psychoneuroimmunologie an der Universidad de Girona in Spanien und 2014 als Scientific advisor, also als wissenschaftlicher Berater (Arizona-Studie Hyperthermie bei Depression), an der University of Arizona, Department of Psychiatry (USA). Seit 2015 Doktorat (PhD) der medizinischen Wissenschaften an der privaten Universität im Fürs­tentum Liechtenstein. Cand. scient. med. Kay-Uwe Hanusch ist Autor wissenschaftlicher Publikationen im Bereich der angewandten Therapiewissenschaften mit Fokus Schmerz und Depression. Er hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen (Fresenius Frankfurt am Main und Idstein, ZHAW Winterthur).

 

Hans Mathys


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