Individuelle Abklärungen aller Gefangenen

  23.06.2020 Aktuell, Krauchthal, Gesellschaft, Region

Die Liste der Negativmeldungen betreffend die Justizvollzugsanstalt (JVA) Thorberg ist lang und seit Jahren immer länger geworden: 2014 wird mit grosser Publizität bekannt, dass der Thorberg-Direktor Georges Caccivio Häftlinge begünstigt und auf dem Bieler Drogenstrich verkehrt haben soll. Er wird seines Amtes enthoben.

Zu viel Eifer, zu viele Reklamationen
Es folgt Thomas Egger, der sich mit grossem Eifer für eine Reorganisation des Gefängnisbetriebes einsetzt. Mit so viel Eifer, dass sich die Reklamationen bei Insassen und Personal betreffend Betriebs- und Führungskultur häufen sowie eine Flut von Kündigungen einsetzt. Ende 2017 sorgt ein Gefangenenstreik für beträchtliches Aufsehen. Im Herbst 2018 wird Egger der Psychologe Karl-Heinz Vogt als Coach zur Seite gestellt, worauf beim Betriebsklima erste Fortschritte zu verzeichnen sind. Trotzdem besteht weiter Handlungsbedarf. Egger kündigt per Ende 2019, auf ihn folgt Hans-Rudolf Schwarz.
Auch das zuständige Amt für Justizvollzug (AJV) gerät infolge der Turbulenzen auf dem Thorberg in die Kritik. AJV-Leiter Thomas Freytag tritt Mitte 2018 zurück. Seine Nachfolge tritt Anfang 2019 Romilda Stämpfli an. Eine Sonderprüfung der Kantonalen Finanzkontrolle kommt im September 2018 zum Schluss, das AJV nehme «seine Führungsaufgabe auf dem Thorberg nur ungenügend wahr». Die Geschäftsleitung wird von zwölf auf acht Personen verkleinert. «Heute sind wir auf Kurs», wird versichert.
Bereits werden Querschnittsfunktionen im AJV harmonisiert. Dazu gehört auch, während einer Pilotphase im Zug der Neuausrichtung die bisher in der JVA Thorberg geführten Bereiche Finanzen und Personaladministration in die AJV-Zentrale zu integrieren. Das ermögliche auf dem Thorberg, sich auf die Kernaufgaben zu fokussieren und eine Effizienzsteigerung zu erreichen, was dem Harmonisierungsauftrag des Regierungsrates entspricht.

Verurteilte bleiben Teil der Gesellschaft
Die JVA Thorberg ist eine von elf Justizvollzugsanstalten des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz. Rund 180 Insassen haben Platz. Derzeit beschäftigt das Gefängnis 128 Personen, wie an der Pressekonferenz von vergangener Woche bekannt gegeben wird. Auf dem Thorberg verbüssen Gefangene «lange Freiheitsstrafen im geschlossenen Vollzug, da bei ihnen von Fluchtgefahr und einem Teil von ihnen von einer Rückfallgefahr Richtung schwerwiegende Delikte ausgegangen werden muss», wie Regierungsrat Philippe Müller von der Berner Sicherheitsdirektion ausführt. Der Vollzug wird begleitet von therapeutischen Massnahmen. Aktuell befinden sich acht Personen in Verwahrung, das heisst, sie werden Thorberg nicht mehr verlassen.
Bisher stand Sicherheit ganz oben auf der Prioritätenliste. Mit dem Hinweis, dass «auch Verurteilte ein Teil unserer Gesellschaft bleiben», plädiert Müller dafür, dass «die Gefangenen eine angemessene Möglichkeit auf Resozialisierung und eine Zukunft erhalten. Die meisten sind an einer vorteilhaften Veränderung ihrer Situation sehr interessiert, was auch positive Auswirkungen auf die Bevölkerung hat. Ein ‹return on investment› ist zu begrüssen. Nur die Durchführung von Gesetzen reicht nicht, der neu entwickelte Masterplan zur Justizvollzugsstrategie des Kantons Bern bietet die Grundlage für tiefgreifende Verbesserungen auf dem Thorberg, die sich bereits abzeichnen.»

JVA-Neubau bis 2032
Gemäss Philippe Müller habe der Masterplan bei interessierten Kreisen die Diskussion bezüglich der Bedarfsplanung an Gefängnisplätzen angestossen: «Es besteht bereits Interesse an Zellen, die erst noch gebaut werden müssen.»
Müller hält fest: «Fortschritte sind auch bei der weiteren Konkretisierung des Masterplanes zur Erneuerung der Infrastruktur im Justizvollzug erzielt worden». Für die neue Vollzugsanstalt im Raum Biel – Seeland – Berner Jura ist das Betriebs- und Raumkonzept bereits erarbeitet worden. Jetzt gilt es, mögliche Standorte für einen Neubau zu evaluieren. Als Zeithorizont nennen die Verantwortlichen eine Spanne bis ins Jahr 2032.
Müller kommt auf die Coronakrise zu sprechen: «Bei rund 1000 Insassen ist genau ein Mann erkrankt und wieder genesen. Unsere Massnahmen waren schnell und effizient. Im Asylbereich ist eine Person erkrankt. Wir waren vorbereitet und hatten viel Glück.» Er dankt ausdrücklich dem Personal und den Gefangenen.

Gefragt ist eine Neuausrichtung
Der neue Thorberg-Direktor Hans-Rudolf Schwarz stellt als wesentliche Neuerung die Eintrittsabteilung für jeden Gefangenen vor, wo dessen Stärken und risikoorientierte Defizite abgeklärt werden und anschliessend mit einem «verstärkt interdisziplinär ausgerichteten Prozess anzustreben ist, dass die Gefangenen ihre definierten Ziele erreichen». Zudem hat Schwarz veranlasst, dass die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Betreuung, Gewerbebetriebe, Soziale Arbeit und Bildung/Freizeit gestärkt wird. Eine angepasste Führungsstruktur hilft weiter. Der Sicherheitsdienst wird Schwarz auf dessen Wunsch direkt unterstellt. Thorberg-Direktor Schwarz erinnert «an die verschiedenen und meist gescheiterten Reorganisationen der vergangenen Jahre, was das Thorberg-Personal nicht mehr hören kann. Daher spreche ich von Neuausrichtung.» Schwarz versichert, dass diese keine Entlassungen nach sich ziehe, sondern für den Mitarbeiterstab «Klarheit beim Auftrag und eine neue Identität» bedeute.

Statt Massenvollzug neu Justizvollzug nach Mass
Hans-Rudolf Schwarz bringt als ehemaliger Direktor der JVA Witzwil (BE) mit offenem Vollzug nach Meinung seiner Vorgesetzten die nötigen Voraussetzungen für «einen Vollzug nach Mass» mit. Er selber betont an der Pressekonferenz, dass er heute nach «anfänglichen Bedenken, wegen der nötigen Umgestaltungen auf dem Thorberg, mit Zuversicht nach vorne blickt».
Die Neuerungen bedeuten für einige Kaderleute, dass sie ihre Büros aus dem historischen Schloss in Zellentrakte verlegen müssen, «um näher bei den Gefangenen zu sein». Statt bisher drei werden neu sechs Untergeordnete Schwarz über alles Wesentliche auf dem Thorberg informieren.
Laut Benjamin Brägger, Sekretär des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz, – der 2014 als externer Experte die Zustände auf dem Thorberg im Zusammenhang mit Caccivio untersucht hat – sind die von Schwarz definierten Neuerungen «absolut notwendig und richtig und entsprechend den Anliegen des Schweizerischen Strafgesetzbuches von 2007». Der angestrebte Vollzugsplan soll interdisziplinär umgesetzt werden.

Personal aktiv beteiligen
AJV-Leiterin Romilda Stämpfli unterstreicht «die Notwendigkeit, in den Vollzugsanstalten die Wiedereingliederung der Gefangenen im Fokus zu behalten. Das Personal ist aktiv am Veränderungsprozess zu beteiligen.» Das vom Thorberg-Personal geäusserte Bedürfnis nach Beständigkeit bezeichnet sie als normal; hier gelte es, die Infrastruktur anzupassen.
Abschliessend informiert Pascal Ludin, Chef Geschäftsfeld Haft und Koordinator Coronavirus AJV, noch detailliert über die Pandemievorkehrungen in den Haftanstalten sowie der geschlossenen Abteilung im Inselspital. Auch er bestätigt bei 1000 Inhaftierten einen Krankheitsfall. «Die nötigen Tests konnten durchgeführt werden. Ein Kranker musste lange behandelt werden; jetzt geht es ihm ausgezeichnet.» Die Inhaftierten haben mehrheitlich Verständnis für die nötigen Massnahmen gezeigt, auch wenn diese grosse Einschränkungen (z.B. beim Besuchsrecht) bedeutet haben. Ludin räumt ein, dass «die Ausarbeitung von Schutzmassnahmen bei einer Pandemie leider zu­­unterst in der Schublade lagen. Das wird sich ändern.» Auch das Fehlen von Schutzmasken darf nicht mehr vorkommen. «Wir sind bis jetzt gut durch die Krise gekommen und bauen weiter vor», schliesst er.
In seinem Schlusswort betont Philippe Müller, dass für sämtliche angeschlossenen Vollzugsanstalten die gleichen Regelungen für die Bewältigung der Coronakrise gelten. Einschränkungen (bei Besuchen und so weiter) werden schrittweise gelockert.

Gerti Binz


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