Das Leben geniessen und vorsichtig bleiben

  15.09.2020 Aktuell, Foto, Wirtschaft, Gesellschaft, Region, Vereine

Fünf breite Sofas stehen auf der Bühne der Markthalle Burgdorf bereit, das mehrere Hundert Personen zählende Publikum ist an Vierertischen über die gesamte Hallenfläche verteilt. Nach der Begrüssung durch Walter Gerber, Präsident von Netzwerk Wirtschaft Emmental und HIV Emmental, stellt dieser Antworten auf die Fragen nach den Auswirkungen der Coronapandemie auf die verschiedenen Wirtschaftsbereiche unter Einbezug der Gesundheitsvorkehrungen in Aussicht. Es nehmen Platz: Hans-Ulrich Bigler (Direktor des Schweizerischen Verbandes der KMU), Walter Gerber, Dr. Daniel Koch (ehem. Leiter Abteilung übertragbare Krankheiten BAG), Karen Wiedmer (Geschäftsführerin Regionalkonferenz) und Hans Jörg Rüegsegger (Präsident des Berner Bauernverbandes).

Alles neu, keine Erfahrungen
Burgdorfs Stadtpräsident Stefan Berger erläutert in seiner Grussbotschaft einige der zu bewältigenden städtischen Probleme infolge der Coronapandemie: «Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz eine Teilmobilmachung erlebt. Das öffentliche Leben wurde stark eingeschränkt, was für die Verwaltung grosse Herausforderungen zur Folge hatte. Es galt, nötige Massnahmen umzusetzen und Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Wir mussten Entscheidungen treffen, ohne die Auswirkungen zu kennen.»
Berger räumt ein, dass die Situation «auch heute noch nicht einfach ist, doch werden wir sie gemeinsam meistern. Auch wenn die Wirtschaftsprognosen düster sind und die Arbeitslosenzahlen steigen.» Leider sinke das Verständnis der Bevölkerung betreffend nötiger Schutzmassnahmen.

Einzigartige Krisensituation
Bigler vertritt als KMU-Direktor (Klein- und Mittelunternehmen, bis 249 Mitarbeitende) rund 588 600 solche Unternehmen von insgesamt 590 253. Daher kann er detailliert über die Bedeutung der Krise für die KMU und den heutigen Stand der Wirtschaft sowie die Perspektiven für die Zukunft informieren. Er spricht von einer «einzigartigen Krisensituation; alle mussten eine Lernkurve durchlaufen. Wir sind im Verlauf der Pandemie gescheiter geworden, konnten die Lage besser einschätzen, haben Erfahrungen gesammelt. Als der Bundesrat am 16. März 2020 den Lockdown verordnete, hat er Leadership bewiesen. Er hat dem Schutz der Bevölkerung oberste Priorität beigemessen.»
Schon gut eine Woche vorher war den KMU-Verbandsverantwortlichen klar, dass grosse Probleme auf die Unternehmen zukommen. Die grosse Frage war, wie Arbeitsplätze gesichert werden können. «Das hatte oberste Priorität. Weiter war klar, dass viele Firmen mit Liquiditätsproblemen kämpfen würden.» Also hat der Verband am 16. März 2020 beim Bundesrat schriftlich die Prüfung von Massnahmen verlangt, wie mit Kurzarbeitszeit gezielt Arbeitsplätze und weiter die Liquidität bei fehlenden Einnahmen infolge des Lockdowns gesichert werden können. Jetzt war Realpolitik gefragt.

Berechtigte Forderungen
Wenn anfangs die Gesundheitspolitik im Fokus des Bundes stand, zeigte sich bald, dass auch die Wirtschaft berechtigte Forderungen hat. Bigler erinnert «an die Probleme von Gärtnereien, Gartencentern usw., die weder Pflanzen noch Frühlingsblumen verkaufen konnten. Und an ausländische Erntehelfer, die schliesslich mit Sonderbewilligungen einreisen konnten. An geöffnete Grossverteiler und geschlossene Lädeli, Coiffeursalons usw. Die ausgewogene Beurteilung von Problemen bei Gesundheit und Wirtschaft war nicht mehr gegeben. Hier war ein Gleichgewicht absolut nötig. Wir mussten darauf hinwirken, die Wirtschaft wieder hochzufahren.»
Also haben die verschiedenen Wirtschaftsverbände ab April 2020 gezielte praxis­orientierte Schutzkonzepte entwickelt, dank denen Publikumsverkehr wieder möglich geworden ist. Bald konnten Gartenzenter, Coiffeure, Kosmetikstudios usw. wieder öffnen. Bigler kommt auf die übereinstimmende Zielsetzung von Gewerkschaften und Arbeitgebern zu sprechen: gleichzeitiger Schutz von Gesundheit und Arbeitsplätzen. Problematisch wird es, wenn der Staat Regulierungen verfügt und der Wettbewerb nicht mehr spielt. Für die Wirtschaft gilt es, den Binnenmarkt zu vitalisieren und sich international zu positionieren.

Mit dunkelblauem Auge davon­gekommen
Bigler fordert «Verfassungsgrundlagen für die Reduktion von unnötigen Regulierungskosten, wodurch Finanzen für die Produktion freigespielt und Arbeitsplätze gesichert werden können».
Er betont die Bedeutung der Freihandelsverträge und nennt die Zahlen der entsprechenden Exporte. Das Thema Homeoffice wird künftig an Bedeutung gewinnen und sich vermehrt durchsetzen. Doch ist das in zahlreichen Berufen wie auf dem Bau, dem Feld usw. nicht möglich. Hier gilt es, neue gesetzliche Grundlagen zu schaffen.
Abschliessend bestätigt Bigler, «dass wir in eine Rezession gehen. Doch sind die Arbeitslosenzahlen und Entlassungen nicht so hoch, wie erwartet. Vom Coronakredit des Bundes sind bisher 26 Milliarden Franken beansprucht worden.» Er hofft, dass «wir die Chance haben, aus der Coronakrise mit einem dunkelblauen Auge davonzukommen, auch wenn wir noch lange mit dem Virus leben müssen.»

Versorgung sicherstellen
Hans Jörg Rüegsegger führt in seiner Lagebeurteilung als Präsident des Berner Bauernverbandes aus, dass «sich auch die Landwirte so schnell und effizient wie möglich an die veränderte Situation infolge Corona anpassen mussten. Wie alle anderen werden wir die Auswirkungen erst in den kommenden Monaten und Jahren kennenlernen und spüren. Wichtig war vor allem, das Virus von den Betrieben fernzuhalten, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Direkte und indirekte Probleme entstanden bezüglich der Erntehelfer, Wochenmärkte, BEA, Agro-Messen usw. sowie bei der Belieferung von Gastrounternehmen.» Mittel- und langfristig sieht er Chancen beim anziehenden Verkauf direkt ab Hof; die Konsumenten schätzen vermehrt gesund und lokal produzierte Produkte. Die Lieferungen an Tourismusdestinationen laufen nach wie vor, Solidarität und Wertschätzung sind gross. Er plädiert für klare Strukturen und Entscheide in der Krise, damit angemessene Lösungen für alle Wirtschaftszweige erarbeitet werden können.

Flexibel bleiben
Karen Wiedmer stellt Daniel Koch und seinen beruflichen Werdegang vor dem schweizweit verliehenen Titel «Mister Corona» vor. Koch fasst die Monate vor dem Lockdown und die getroffenen Vorkehrungen der Regierung zusammen. «Losgegangen ist es am 24. Januar 2020, als die Ernsthaftigkeit der Probleme erkenntlich wurde. Nur mit der Geschwindigkeit, mit der sich das Virus weltweit verbreitete, hatte niemand gerechnet. Solche Krisen kommen überraschend, ohne die Möglichkeit von Vorbereitungen. Man muss sie annehmen und flexibel bleiben. Die Schweiz hat diese Fähigkeiten bewiesen.»
Auf die Frage nach seiner Stressbewältigung empfiehlt er genügend Schlaf und Spaziergänge in der Natur. Hier ist genauso ein Gleichgewicht nötig wie bei der Bewältigung von gesundheitlichen und wirtschaftlichen Coronamassnahmen. Er räumt ein, dass gewisse Verordnungen Ungerechtigkeiten geschaffen hätten, Auskünfte zu Masken und Tests seien nicht immer optimal gewesen. Das heutige Schutzkonzept sei den Umständen entsprechend gut für den Sport, Konzerte, Veranstaltungen usw., sofern die Regeln eingehalten würden. Koch plädiert «bei absehbarem Risiko für ausgewogene Schutzmassnahmen für Gesundheit und Wirtschaft. Nur so lässt sich die Zukunft der Schweiz gestalten.»
Beim abschliessenden Podiumsgespräch unter Einbezug des Publikums beantworten die Referenten Fragen zu ganz unterschiedlichen Themen, bevor man sich beim Apéro verwöhnen lässt.

Gerti Binz
 


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