Die Gebrüder Schnell – Wegbereiter der bernischen Demokratie

  13.01.2021 Aktuell, Foto, Kultur, Burgdorf, Region

Im Januar 1831 gärte es im Kanton Bern. Das Fundament der jahrhundertealten Herrschaft der patrizischen Familien war ins Wanken geraten. Die Rufe nach einem grundlegenden Wandel, nach Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, einer Gleichstellung der Landschaft mit der Stadt Bern sowie politischen Mitwirkungsmöglichkeiten für breitere Volksschichten wurden immer lauter. Zu den wichtigsten Gegnern des patrizischen Herrschaftssystems und den prominentesten Verfechtern einer liberalen Umwälzung gehörten die Brüder Johann Ludwig (1781–1859), Karl (1786 –1844) und Hans Schnell (1793 –1865) aus Burgdorf, die Söhne von Johannes Schnell, Stadtschreiber und Advokat, und Rosina Schnell, geborene Dür. Die drei spielten bei der Umwandlung des aristokratischen Obrigkeitsstaats in einen demokratischen Verfassungsstaat eine entscheidende Rolle. Die Zeitung «D’REGION» lässt an dieser Stelle die historischen Ereignisse, die vor 190 Jahren zum Sturz des Patriziats führten, Revue passieren und würdigt das politische Engagement der Gebrüder Schnell. Diese lassen sich mit Fug und Recht als Wegbereiter der bernischen Demokratie bezeichnen.

Gegner der Aristokratie
Johannes Schnell, der Vater der drei Schnell-Brüder, war ein Anhänger der kurzlebigen revolutionären Helvetischen Republik, die 1798 nach dem Einmarsch der Franzosen in die Eidgenossenschaft und dem Sturz des Ancien Régime gegründet wurde. Er bekleidete das Amt eines helvetischen Distriktstatthalters und gehörte zu den Förderern Pestalozzis, der ab 1799 in Burgdorf zunächst als Lehrer wirkte, dann als Vorsteher eines Erziehungsinstituts auf dem Schloss. Die Helvetische Republik, die auf dem Gedankengut der Aufklärung fusste, konnte sich allerdings nicht auf Dauer etablieren. Angesichts permanenter Unruhen, bürgerkriegsähnlicher Zustände und der Uneinigkeit in den Reihen der Revolutionäre ging der zentralistische Einheitsstaat, der für seinen Fortbestand auf Napoleons Gnaden angewiesen war, bereits 1803 unter. Mit der föderalistischen Mediationsakte von 1803 kehrte in Bern das aristokratisch-patrizische Regime an die Schalthebel der Macht zurück. Die Patrizier betrachteten die Sympathisanten der Helvetik natürlich mit Argwohn. Für die Familie Schnell begann damit eine Zeit der Zurücksetzung.
Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 versuchte das Patriziat, das Rad der Zeit in der Restaurationsperiode weiter zurückzudrehen. Nur die von Gott ausersehenen Familien waren zum Herrschen und Regieren berechtigt. Die Schnell-Brüder empfanden dagegen den Ausschluss des Grossteils der Bevölkerung an der politischen Mitwirkung als ungerecht. Sie fühlten sich, wie ihr Vater, den Freiheitsidealen der Französischen Revolution verpflichtet. Bereits 1814 pflegten sie Kontakte zu Oppositionellen und sympathisierten mit Rebellen aus dem Oberland, welche gegen die Obrigkeit aufbegehrten. Der damalige Widerstand gegen das Patriziat führte allerdings zu keinem Ergebnis.

Berufliche Karriere
Johann Ludwig, der älteste der drei Schnell-Brüder, wirkte in Burgdorf zunächst als Amtsschreiber, wurde dann aber wegen seiner liberalen Überzeugung von diesem Posten entfernt. Er trat später die Nachfolge seines Vaters als Stadtschreiber von Burgdorf an. Da er mit der Tochter des Stadtberner Patriziers Niklaus Samuel Rudolf Gatschet verheiratet und Mitglied im Grossen Rat war, führte er einen gemässigteren Kampf gegen die Aristokratie als seine beiden Brüder. Karl Schnell schlug ebenfalls eine juris­tische Karriere ein. Der Doktor der Jurisprudenz bekleidete 1816/1817 eine Stelle als Regierungssekretär im liberalen Kanton Aargau und machte sich nach der Rückkehr nach Burgdorf einen Namen als Anwalt. Mit Leidenschaft trat «ds Dökti» von Burgdorf, wie er im Volksmund genannt wurde, für all jene ein, welche sich gegen staatliche Übergriffe zur Wehr setzten oder sich von Amtspersonen ungerecht behandelt fühlten. Nach dem Tode seines Vaters im Jahr 1824 übernahm er das etwas abseits der Stadt gelegene innere Sommerhaus, das für ihn zeit seines Lebens ein Paradies auf Erden darstellte, eine Oase der Ruhe und des Friedens. Hans Schnell studierte Medizin und wurde 1827 ordentlicher Professor der Naturwissenschaften an der Akademie in Bern.

Der Funke der Pariser Juli-Revolution von 1830
Die grosse politische Stunde der Gebrüder Schnell schlug erst in den Jahren 1830/1831. Die erfolgreiche Juli-Revolution in Paris von 1830, die zur Machtergreifung des Bürgertums führte und in der Etablierung einer konstitutionellen Monarchie mündete, gab den liberalen Bewegungen in ganz Europa Auftrieb. Als Karl Schnell von der Umwälzung in Frankreich erfuhr, strich er – zum Ärger der Anhänger der alten Ordnung – die Blechfahnen an seinem Gartenhäuschen in den Farben der Trikolore. Mit Gesinnungsfreunden trafen sich die Schnell-Brüder jeweils wöchentlich zur sogenannten Leistgesellschaft, um über das politische Vorgehen zu debattieren. Hier entstand die Idee, über den Stadtrat von Burgdorf eine Eingabe an die Regierung mit der Bitte um eine Verfassungsreform zu richten. Diese sah darin eine Provokation und verbot den Burgdorfern, sich mit Verfassungsfragen auseinanderzusetzen. Am 3. Dezember 1830 versammelten sich in Burgdorf rund 300 Liberale aus dem ganzen Kanton, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Alle drei Schnell-Brüder traten als Volksredner in Erscheinung. Erneut forderten sie Reformen und erhöhten damit den Druck auf die Regierung. Diese setzte am 6. Dezember 1830 eine Kommission ein, welche Wünsche und Anträge aus dem Volk entgegennehmen und untersuchen sollte. Die Petitionen mussten bis Ende Jahr eingereicht werden. Das Zugeständnis wurde in Burgdorf mit einem Fackelzug gefeiert.
 
Petitionsbewegung
Bei der anschliessenden Petitionsbewegung spielte Karl Schnell eine zentrale Rolle. Er formulierte ein Schema mit 18 Punkten, das den Gemeinden als Vorlage diente. Zu von ihm artikulierten Forderungen gehörten unter anderem die Anerkennung der Volkssouveränität, die Abschaffung aller Vorrechte des Orts, der Geburt, der Personen oder Familien, die Volksvertretung nach Bevölkerungszahl, die Gewaltentrennung, niedrige Hürden, um zu wählen oder gewählt werden zu können, das Öffentlichkeitsprinzip in der Verwaltung sowie die Aufhebung der Zensur und die Einführung der Pressefreiheit. Bis 31. Dezember 1830 wurden 592 Petitionen eingereicht – zahlreiche davon orientierten sich an Schnells Modell. Die Äusserungen des Volkes zeigten in aller Deutlichkeit, dass Reformen unumgänglich waren.

Die Volksversammlung in Münsingen
Am 10. Januar 1831 – vor 190 Jahren – luden die Gebrüder Schnell ihre Gesinnungsgenossen zu einer Volksversammlung in die Kirche von Münsingen ein, zu der sich über 1500 Personen aus dem ganzen Kantonsgebiet einfanden. Der Kampf zwischen den Anhängern des alten Regimes und den Reformkräften befand sich damals in der entscheidenden Phase. Eine Eskalation der Ereignisse drohte – eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen schien keineswegs unrealistisch. Mit ihren Auftritten als Redner beabsichtigten Hans und Karl Schnell, Einzelaktionen unter den liberalen Kräften vorzubeugen, das Steuerruder in die Hand zu nehmen, die Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken und gleichzeitig den Druck auf das Patriziat zu erhöhen. Hans Schnell schlug versöhnliche Töne an, zeigte sich aber zugleich siegesbewusst. Das Patriziat verglich er mit einem Spatz in der Hand des Volkes, der jederzeit zerdrückt werden könne. Zugleich warnte er aber vor der Anwendung ungesetzlicher Mittel. Karl Schnell dagegen verlangte in einer impulsiven Rede, die mit niemandem abgesprochen war, die Einsetzung eines Verfassungsrates, der den Übergang von der Aristokratie zur repräsentativen Demokratie in die Wege leiten und dadurch die Ruhe und Ordnung sicherstellen sollte. Sein Votum wurde von der Menge begeistert aufgenommen und zum Beschluss erhoben. Mit seinem eigenmächtigen Vorgehen versetzte Karl Schnell der Aristokratie den Todesstoss. Ein Kompromiss zwischen beiden Lagern war unmöglich geworden.

Abdankung des Patriziats und Annahme der neuen Verfassung
Drei Tage später, am 13. Januar 1831, dankte die patrizische Regierung aus Angst vor einem bewaffneten Aufstand ab. Emanuel Friedrich von Fischer, der letzte Schultheiss, erklärte in einer Rede: «Die Kraft der Regierung lag im Zutrauen des Volkes, heute hat sie dieses verloren. Die Wahl ist zwischen Bürgerkrieg und Rücktritt.» Damit hatten die Reformkräfte ihr Ziel erreicht.
Am 28. Februar 1831 trat der 111-köpfige Verfassungsrat zum ersten Mal zusammen. Am 31. Juli 1831 nahm die Bevölkerung des Kantons die neue Verfassung mit einer überwältigenden Mehrheit von 27 000 gegen 2153 Stimmen an. Diese beseitigte die aristokratischen Privilegien sowie das Machtgefälle zwischen der Stadt Bern und den ländlichen Regionen. Sie postulierte die Volkssouveränität und die Rechtsgleichheit, garantierte die Unverletzlichkeit der Person, den Schutz des Eigentums, etablierte die Presse-, Niederlassungs- und Religionsfreiheit und verankerte das Recht auf Bildung. Die Gebrüder Schnell standen auf dem Höhepunkt ihrer Macht und genossen grosses Ansehen. Nun ging es an die Herku­lesaufgabe, den neuen jungen, liberalen Staat aufzubauen. Zu diesem Zweck riefen die Schnellen bereits am 24. Februar 1831 eine eigene Zeitung ins Leben, den «Berner Volksfreund», den sie als Kampfblatt für die Durchsetzung ihrer politischen Visionen konzipierten. Aufgrund der bernischen Zensurbestimmungen musste die Zeitung anfänglich in Solothurn gedruckt werden, ab Oktober 1831 erschien sie in Burgdorf bei der Druckerei und Buchhandlung Langlois. Der Geistliche Albert Bitzius, Vikar und später Pfarrer in Lützelflüh, der als Schriftsteller unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf Weltruhm erlangte und mit den Gebrüdern Schnell befreundet war, verfasste zahlreiche Artikel für die erste liberale Zeitung des Kantons.

Burgdorf – Geburtsort der Volkssouveränität im Kanton Bern
Während sich Johann Ludwig Schnell nach dem Umsturz aus der Politik zurückzog, engagierten sich Hans und Karl, teils eher widerwillig, in verschiedenen politischen Ämtern – unter anderem im Grossen Rat sowie Regierungsrat. Bald schon mussten sie allerdings feststellen, dass die Umgestaltung des Kantons erhebliche Schwierigkeiten mit sich brachte. In den folgenden Jahren gerieten sie von zwei Seiten ins Kreuzfeuer der Kritik. Für die Anhänger der alten Ordnung blieben sie das Feindbild schlechthin; zugleich entstand aber schon bald eine radikale Bewegung, welche raschere und weitergehende Reformen forderte und dem Volk mehr Rechte zugestehen wollte. Im Jahr 1838 traten Hans und Karl Schnell nach einer verlorenen Abstimmung anlässlich des sogenannten «Napoleonhandels» von all ihren politischen Ämtern zurück.
Karl Schnells Leben endete tragisch. Er beging 1844 vermutlich Suizid in der Aare. Hans Schnell führte eine Apotheke in Burgdorf sowie eine chemische Fabrik im Lochbach. Er engagierte sich später wieder politisch gegen die Radikalen und starb im Jahr 1865.
Athen gilt bekanntlich als die Wiege der Demokratie. Für den Kanton Bern lässt sich Burgdorf, dank des Wirkens der Gebrüder Schnell, als Geburtsort der Volkssouveränität bezeichnen.


Markus Hofer


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