Im «Anne Bäbi Jowäger»-Roman kämpft Albert Bitzius gegen die weit verbreitete Impfskepsis an

| Mi, 20. Jan. 2021

LÜTZELFLÜH: Der grosse Roman des Schriftstellers Jeremias Gotthelf hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. red

Zu Beginn des zweibändigen Romans von Jeremias Gotthelf «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht», erschienen 1843 /1844, erkrankt der Knabe Jakobli an Pocken und stirbt beinahe an der verhängnisvollen Krankheit, die ihn entstellt und auf einem Auge erblinden lässt. Anne Bäbi und Hansli Jowäger, die Eltern von Jakobli, haben ihren Sohn aus Traditionsbewusstsein und Fortschrittsfeindlichkeit nicht gegen die Seuche impfen lassen – für dieses Versäumnis muss die Familie nun einen hohen Preis bezahlen. Dem Pfarrer gegenüber erklärt Hansli Jowäger die Gründe für die Impfskepsis mit folgenden Worten: «Ds Anne Bäbi hat gesagt, es grus ihm schier, so dem armen, unschuldigen Kind express Schmerzen [durch die Impfung] zu machen, und man wüsste doch nicht, ob es eigentlich nötig wäre oder nicht; und ich habe bei mir selbst gedacht, das sei so eine neue Mode, und wenn der liebe Gott nicht gewollt hätte, dass die Kinder die Blattern bekommen sollten, so hätte er sie nicht kommen lassen, und dem lieben Gott so seinen Willen z’hingerha, das het mir sich neue nit welle schicke.» Darauf entgegnet der Pfarrer nur: «Aber Hansli, […] wenn Ihr die Sache so nehmt, so hättet Ihr auch denken können, der liebe Gott hätte das Impfen nicht erfinden lassen, wenn er nicht gewollt hätte, dass man damit gegen die Blattern sich wehren könne.»

Die Gräben zwischen Impfbefürwortern und -gegnern sind so alt wie das Impfen selbst
Heute, rund 180 Jahre nach der Publikation, wirkt Gotthelfs Roman «Anne Bäbi Jowäger», in dem der Pfarrer von Lützelflüh und bedeutende Volksschriftsteller «gegen den Unverstand im medizinischen Doktern» und insbesondere gegen die Quacksalberei und den Aberglauben zu Felde zieht, aber auch die Grenzen des Wissens und der Wissenschaften betont, aktueller denn je.
Momentan ist in der Schweiz die Kampagne für die Corona-Impfung in vollem Gange, der Impfstart in der Region erfolgte in der vergangenen Woche (vgl. Bericht Seite 3). Die Nachfrage ist gross – die ersten Terminfenster sind bereits ausgebucht. In Teilen der Bevölkerung herrscht aber Unsicherheit und Skepsis vor. In einer kürzlich durchgeführten repräsentativen Umfrage des Bundesamts für Gesundheit gab ein Viertel der Befragten an, sich nicht impfen zu lassen. Die Gräben zwischen Impfbefürwortern und -gegnern sind so alt wie das Impfen selbst. Sie treten immer wieder offen zutage – wie zum Beispiel bei der Pockenimpfung, welche die Berner Regierung im 19. Jahrhundert forcierte und die von Albert Bitzius propagandistisch unterstützt wurde.
Die Zeitung «D’REGION» wirft einen Blick in die Vergangenheit, schildert den Kampf gegen die Pocken und beleuchtet den Entstehungskontext von Gotthelfs faszinierendem Roman, der zu seinen bedeutendsten Werken gehört.

Die Pocken – eine Geissel der Menschheit
Die Pocken, die durch Viren über die Atemwege oder den Kontakt mit infizierten Gegenständen übertragen werden, zählten lange Zeit zu den gefährlichsten und tödlichsten Infektionskrankheiten und galten über Jahrhunderte als Geissel der Menschheit. Die Seuche raffte Hunderttausende von Menschen dahin und unterschied nicht zwischen arm und reich – zu den Opfern gehörten auch Herrscher wie der russische Zar Peter II. und der französische König Ludwig XV.
Wer sich ansteckte, litt unter Kopf- und Rückenschmerzen, hohem Fieber, Schüttelfrost und Katarrh. Nach einigen Tagen breitete sich charakteristischerweise ein Ausschlag vor allem im Gesicht sowie an Armen und Beinen mit eitrigen Pusteln aus, der bei den Überlebenden bleibende Narben zurückliess. Im «Anne Bäbi Jowäger»-Roman beschreibt Gotthelf den Krankheitsverlauf beim kleinen Jakobli auf plastische und äusserst realistische Weise: «Schauer wechselten mit des Feuers Glut; ein heftiges Kreuzweh stellte sich ein, Kopfweh schien Jakobli des Kopfes Deckel oben absprengen zu wollen, und dann ward ihm wieder, als ob sein Gesicht in einem Ameisenhaufen stecken täte und der übrige Leib in Nesseln. […] Aber die Glut liess nicht nach; die Ameisen stachen immer schmerzlicher, die Nesseln brannten immer glühender; es sass doch etwas Seltsames auf oder unter der Haut. Diese wurde grübelnd; es traten kleine Erhöhungen deutlicher auf, dieselben gestalteten sich zu Bläschen, und die Bläschen wurden rigeldick und wuchsen immer deutlicher und grösser.»

Edward Jenner – Erfinder der ersten Schutzimpfung
Seit dem Jahr 1721 wurde in Europa eine aus Asien eingeführte Form der Impfung mit menschlichen Viren angewandt. Diese erwies sich allerdings zunächst als wenig wirksam, teilweise sogar als kontraproduktiv: Oft löste die sogenannte Variolation die Krankheit in ihrer schweren Form erst aus. Da geimpfte Kinder meist nicht isoliert wurden, wirkten sie als Ansteckungsherde. Erst als der englische Arzt Edward Jenner, der als Erfinder der Schutzimpfung gilt, im Jahr 1796 – ein Jahr vor der Geburt Gotthelfs – entdeckte, dass sich die Kuhpockenerreger, die von Euter von Kühen stammten, für die Impfung von Kindern eigneten und durch diese nicht mehr weiterverbreitet wurden, stand ein effektives Instrument zur Bekämpfung der Krankheit bereit, das auch in Bern Anwendung fand.

Kampagne gegen die Pocken im Kanton Bern
Als ab 1820 eine Pockenepidemie Europa in Angst und Schrecken versetzte, bemühte sich die Obrigkeit um einen Impfstoff von guter Qualität und propagierte das Impfen der Bevölkerung. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, wurden die amtlichen Publikationen von den Kanzeln aus verlesen. Gotthelfs Vater, Sigmund Bitzius, Pfarrer in Utzenstorf, verlas im Februar 1822 in der Kirche die Aufforderung der Regierung, sich gegen die Blattern impfen zu lassen. Neben patentierten Ärzten durften vorübergehend auch eigens geschulte Hebammen die Impfungen vornehmen. Doch mit dem Abflauen der Epidemie nahm die Impfwilligkeit in der Bevölkerung rasch wieder ab.

Eine Schrift gegen Quacksalberei im Auftrag der Sanitätskommission
Nicht nur die Bekämpfung der Pocken verlief schleppend, auch der Kampf gegen medizinische Irrlehren, Kurpfuscher und Quacksalber schritt kaum voran. Aus diesem Grund beauftragte der Berner Regierungsrat im Januar 1842 die ihm unterstellte Sanitätskommission, eine Aufklärungsschrift in Auftrag zu geben, um «das Volk auf die medizinischen Pfuscher im Kanton Bern aufmerksam zu machen» und vor den daraus resultierenden Gefahren zu warnen. Als Präsident der Sanitätskommission amtierte damals Emanuel Eduard Fueter, Professor für innere Medizin an der Universität Bern und Gründer der bernischen Poliklinik, ein Jugendfreund von Albert Bitzius. Aus diesem Grund erstaunt es kaum, dass Bitzius als Verfasser für die geplante Schrift angefragt wurde – zumal sich dieser als Autor mit drängenden sozialen und gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzte und sich als volksnaher Schriftsteller bereits einen Namen erworben hatte.

Berater und Freund Emanuel Eduard Fueter
Nach einigem Zögern erklärte sich Bitzius bereit, den Auftrag zu übernehmen. Um sich in die Materie zu vertiefen, erhielt er auf Wunsch umfangreiches amtliches Aktenmaterial über die Kurpfuscherei sowie Berichte von Ärzten aus dem Kantonsgebiet zugestellt. Darin tauchen allerlei wunderliche Gestalten auf, denen die Regierung das Handwerk zu legen suchte – etwa die Witwe Marti zu Oberönz, deren Heilmittel und Behandlungsmethoden oftmals zum frühzeitigen Tod der Patientinnen und Patienten führten. Fueter diente Bitzius als Berater für alle medizinischen Fragen und las die ihm übermittelten Romanpassagen aufmerksam durch. Die Schilderung der Pocken versah er mit einigen Anmerkungen, bezeichnete diese aber als vortrefflich. Fueter selbst erkrankte als 11-jähriger Knabe an der Seuche – seine Eltern hatten sich zuvor geweigert, ihn impfen zu lassen. Dies büsste er beinahe mit dem Verlust der Sehkraft. Seine Augen trugen einen bleibenden Schaden davon. Sein gesundheitliches Leiden bestärkte ihn im Wunsch, Arzt zu werden und den Kranken zu helfen.

«Anne Bäbi Jowäger» sprengte die formalen und inhaltlichen Vorgaben
Bitzius’ Roman überschritt die formalen und inhaltlichen Vorgaben der Berner Regierung. Aus der projektierten Broschüre entstand ein umfangreicher Roman. An Fueter schrieb er im Oktober 1842: «Sobald ich eine Arbeit anfange, so kommt ein Geist in die Arbeit, und dieser Geist ist mächtiger als ich, und in jede Person kommt ein Leben, und dieses Leben fordert seine Rechte, will auswachsen und nach allen Richtungen sich geltend machen.» Im November 1842 entband er die Sanitätskommission von jeglicher Verpflichtung.
Bitzius stellte das Thema Doktern und Pfuscherei in grössere Zusammenhänge als ursprünglich beabsichtigt war. Er verknüpfte Gesundheit und Krankheit mit Glauben, Aberglauben und Unglauben, mit Liebe und Gefühl, mit Haushalten und Wirtschaften, mit dem Leben an und für sich. Er zeigte sich überzeugt, «dass der Hang des Landmanns zu Pfuschern weit tiefer liegt, als man meist glaubt, dass er eine religiöse Quelle hat auf der einen Seite und durch frivole Ärzte auf der andern Seite verschuldet wird.» Bitzius konnte also die Anziehungskraft, welche die Quacksalber mit ihren angeblich magischen Heilkräften auf die Bevölkerung ausübten, durchaus nachvollziehen und begriff auch, dass diese dem einfachen Landmann oftmals näher standen als die ausgebildeten Ärzte, die für die traditionellen Heilmittel nur Verachtung übrig hatten und deren Behandlungsmethoden meistens kostspieliger waren.

Der Zusammenhang von Körper und Seele
Am Beispiel des Haushalts der Familie Jowäger und ihres Umfelds prangert Bitzius im Namen der Aufklärung die Impfskepsis, abergläubische Vorstellungen sowie die unlauteren Behandlungsmethoden der Quacksalber an, welche aus dem Leid Profit zogen. Gleichzeitig äussert er aber auch Kritik an der rein naturwissenschaftlichen Aufklärung und den Ärzten, welche ihr Wissen überschätzen, von der Unfehlbarkeit der Wissenschaften überzeugt sind und ob dem Körper die Seele vernachlässigen. Es ist ihr Unglaube, der dem Aberglauben erst Tür und Tor öffnet. In einer Schlüsselpassage des Romans steht: «Immer lebendiger drängt sich als Ergebnis aller Forschung das Bewusstsein auf, dass durch das Sichtbare ein geheimes Unsichtbares sich ziehe, ein wunderbares Band die Menschen unter sich verknüpfe, auf unerklärliche Weise mit der Natur nicht nur sie in Verbindung bringe, sondern auch mit einer höhern Welt, dass zwischen den Gestaltungen der Materie und den Äusserungen aller Kräfte gegenseitige Einflüsse und Wirkungen stattfinden, von denen die Sinne nichts wahrnehmen, die man weder unter das anatomische Messer noch in den Schmelztiegeln der Chemie zersetzen kann.» Bitzius plädiert deshalb für eine ganzheitliche Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit: «Körper und Seele», erklärt der Pfarrer in «Anne Bäbi Jowäger», «sind gar in einem engen Zusammenhang, wenn es einem fehlet, so leidet auch das andere, und manchmal scheint es an dem Körper zu fehlen, aber man muss doch die Seele doktern».

Aktuell
Seit Erscheinen des Romans hat die Medizin enorme Fortschritte gemacht. Mit einer bis anhin beispiellosen Impfkampagne gelang es bis Ende der 1970er-Jahre, die Pocken weltweit auszurotten. Wie zu Gotthelfs Zeiten versuchen auch heute in der Coronakrise Scharlatane, Betrüger und Populisten die Verzweiflung der Menschen auszunutzen. Die grossen Fragen über die Wechselwirkung von Vernunft und Gefühl, Glauben und Wissen, Körper und Seele, die Bitzius im «Anne Bäbi Jowäger»-Roman aufwirft, stellen sich angesichts der Pandemie mit neuer Vehemenz.

Markus Hofer

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