Wie lebt frau hinter Gittern?

| Mi, 13. Jan. 2021

HINDELBANK: In Hindelbank befindet sich die einzige Strafanstalt für Frauen in der Schweiz. Wie lebt es sich dort? red

Per Ende Dezember 2020 sassen 96 Frauen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hindelbank ihre Haftstrafen ab. Einige wenige von ihnen werden nur ein paar Monate in der kleinen Gemeinde mit knapp über 2600 Einwohnern verbringen, der Grossteil hingegen wird über mehrere Jahre im Areal direkt beim Schloss Hindelbank ein neues Zuhause finden. «D’REGION» hat mit Annette Keller, seit 2011 Direktorin der Anstalten Hindelbank, darüber gesprochen, wie das Leben hinter Gittern eigentlich abläuft.

Klare Ziele
Annette Keller führt den klaren Auftrag der JVA Hindelbank aus: «Wir haben drei wichtige Aufgaben: die Sicherheit zu gewährleisten, den Inhaftierten einen möglichst normalen Alltag zu bieten und mit den Insassinnen darauf hinzu­arbeiten, dass sie nach der Entlassung nicht rückfällig werden.» Der Strafvollzug hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert und mit Blick auf die Gefangenen stark individualisiert. Auch der Wunsch der Gesellschaft nach mehr Sicherheit ist markant gestiegen, besonders nach dem «Mord am Zollikerberg», als 1993 ein bereits verurteilter Straftäter während einem Hafturlaub einen weiteren Mord verübte. So sind Strafen heute ein durchgeplanter Prozess und auf die jeweiligen Straftäter massgeschneidert. «Wir erarbeiten individuelle Ziele mit den Insassinnen und schauen etwa, womit das Delikt zu tun hatte und was passieren muss, damit es keinen Rückfall gibt», erklärt die Direktorin. Früher war es üblich, dass man nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Haftstrafe freigelassen wurde, während heute oftmals dagegen entschieden wird.

Eine Chance, Neues zu lernen
Wichtig ist, dass die Frauen im Strafvollzug sinnvolle Tätigkeiten ausüben und neue Fähigkeiten entdecken und erlernen. So bietet die JVA Hindelbank beispielsweise eine zweijährige Attestlehre als «Hauswirtschaftspraktikerin EBA» an. «Wir machen das nicht, weil es Tätigkeiten sind, die traditionell Frauen zugeordnet werden, sondern weil sich dadurch viele Möglichkeiten eröffnen, nach der Entlassung arbeitstätig zu werden», erklärt Annette Keller. «Jede Frau soll die Anstalt mit einem Rucksack an Fähigkeiten, Einsichten und Zuversicht verlassen.»

Das Leben hinter Gittern
Wie funktioniert eigentlich der Justizvollzug in der Schweiz? Grundsätzlich so: Wer nach einer schwerwiegenden Straftat erwischt wird, landet im Gefängnis. Dies ist als temporärer Aufenthaltsort gedacht, bis der Prozess abgeschlossen ist. Steht eine Verurteilung fest, wird die Person in eine Justiz- oder Massnahmenvollzugsanstalt überwiesen. Da Frauen in der Schweiz nur einen kleinen Teil der in der Schweiz Inhaftierten ausmachen (zurzeit 5,8 Prozent der Inhaftierten), liegt bei der JVA Hindelbank ein Sonderfall vor. Normalerweise, also bei Männern, werden Freiheitsstrafen (Schuld des Täters massgebend) und Massnahmenvollzug (Tat im Zusammenhang mit einer psychischen Krankheit) getrennt durchgeführt. Da sich dies nur für Frauen aber nicht lohnen würde, werden in Hindelbank beide gemischt. «Das macht es nochmal komplexer», kommentiert Keller.
Eingesperrt in ihren Zellen sind die Insassinnen in Hindelbank nur über die Nacht von 21.00 bis 7.00 Uhr. Tagsüber verbringen sie ihre Zeit in Wohngruppen und an ihrer Arbeitsstelle. Werktags arbeiten die Frauen während sieben Stunden in verschiedenen Werken, etwa in der Hauswirtschaft, im Kochwerk, Waschwerk oder Werk­atelier. Vom verdienten Geld, durchschnittlich 26 Franken am Tag, erhalten sie einen Teil am Ende des Monats und einen Teil nach der Entlassung. Für Hygieneartikel mussten die Frauen bis vor circa eineinhalb Jahren noch selbst aufkommen, mittlerweile werden diese aber kostenlos zur Verfügung gestellt.

Das soziale Leben
Die Frauen verbringen also einen Gross­teil des Tages entweder in ihren Wohngruppen oder mit anderen Frauen an ihren Arbeitsplätzen. «Natürlich gibt es da auch Konflikte, aber überraschend wenige in Anbetracht dessen, dass ja niemand freiwillig hier ist», weiss Keller. «Diese sind aber ganz selten körperlich, nur vielleicht ein- bis zweimal im Jahr.» Ohne Konflikte würde überhaupt etwas fehlen, ist sich Annette Keller sicher. So könnten die Insassinnen in einer sicheren Umgebung daran arbeiten, wie diese Situation am besten zu lösen ist. Gemeinsame Anliegen können die Frauen per Eingewiesenenrat, eine interne Vertretung der Insassinnen, an die Anstaltsleitung übermitteln. Früher habe dieses System eher geschlafen, wie Keller berichtet, doch seit einem Jahr laufe es wieder aktiv. «Die Zusammenarbeit ist sehr konstruktiv. Einige Punkte konnten wir bereits umsetzen, bei anderen haben wir erklärt, warum es nicht möglich ist», sagt Keller.
Momentan ist die JVA Hindelbank zu 47 Prozent mit Schweizerinnen besetzt. Die restlichen Inhaftierten setzen sich aus über 30 Nationalitäten zusammen. Damit es zu keinen Verständigungsproblemen kommt, achte man etwa darauf, dass in allen Wohngruppen die wichtigsten Sprachen abgedeckt sind. Wenn man kann, nimmt man aber auch Rücksicht, wie Keller beschreibt: «Als mehrere Mongolinnen bei uns waren, haben wir geschaut, dass diese nicht einzeln auf die Wohngruppen verteilt werden.»
Rund ein Viertel der Angestellten der JVA Hindelbank sind Männer. DieseTatsache sei auch äusserst wichtig, wie die Direktorin weiss. «Viele Frauen hier haben sehr schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, deshalb ist es entscheidend, dass sie auch Männern begegnen, die sich korrekt verhalten.»

Familienkontakt trotz Haftstrafe
«Für viele Frauen ist die Trennung von ihren Kindern das Schlimmste an ihrer Freiheitsstrafe», weiss Annette Keller. Mit einem erweiterten Besuchsrecht für eigene Kinder (soweit möglich unlimitiert) möchte die JVA Hindelbank dafür sorgen, dass der Kontakt zu Kindern trotz des Freiheitsentzugs möglich bleibt. Auch wenn eine Frau bei Haftantritt schwanger ist, ist in der JVA Hindelbank vorgesorgt. Nach der Geburt (im Inselspital Bern) ermöglicht die Anstalt mit einer besonderen Wohngruppe einen engen Kontakt zwischen Mutter und Kind. Während die Mutter tagsüber arbeitet, gehen die Kleinkinder ins «Kita / Chinderhus» der Gemeinde Hindelbank. Abends dürfen sich die beiden dann wiedersehen. Das ist möglich, bis das Kind drei Jahre alt ist. Die meisten Frauen mit Kindern sitzen jedoch nur kürzere Haftstrafen ab, in Notfällen muss das Kind nach dieser Zeit fremdplatziert werden, entweder bei den Grosseltern, einer Pflegefamilie oder in einem Heim.  
Da einige Frauen aber trotzdem längere Zeit hinter den Hindelbanker Zäunen und Mauern verbringen, sind auch Haustiere ein Thema. Zurzeit leben zwei Katzen und einige Meerschweinchen mit den Frauen. Auch für Annette Keller eine durchaus positive Erfahrung: «Die Beziehung zu den Tieren tut sicher gut und hilft den Frauen zudem, Verantwortung zu tragen. Wir hatten auch schon Vögel oder Hamster als Haustiere.»

Neue Herausforderungen durch das Coronavirus
Auch die JVA Hindelbank wurde nicht von der Coronapandemie verschont. Schon sehr früh, im März 2020, wurde ein erster Fall in der Anstalt registriert. Darauf wurde der Betrieb weiter heruntergefahren, die Frauen durften nicht mehr arbeiten und verbrachten mehr Zeit in der Wohngruppe und der Zelle. Auch Ausgang und Besuch waren gestrichen. «Die eingewiesenen Frauen haben diese Zeit sehr gut gemeistert», lobt Keller. «Einige haben uns gesagt, dass sie sich hier sehr sicher fühlen.» Mittlerweile ist der Normalbetrieb wieder aufgenommen, mit Maskenpflicht und nötigen Abständen. Der Gesundheitsdienst der JVA Hindelbank nimmt selber Tests ab, um innerhalb kurzer Zeit mögliche Verdachtsfälle zu überprüfen. Um genügend Spielraum zu haben, wurden dieses Jahr drei Zellen freigehalten.
Das Coronavirus führte in Hindelbank aber auch zu ganz unerwarteten und kuriosen Szenarien. Seit Freitag, 8. Januar 2021, kann man sich im Kanton Bern zur Impfung gegen das Coronavirus anmelden. Die Nummer der zuständigen Telefonhotline unterscheidet sich aber nur minimal von der Telefonnummer der Empfangsloge der JVA Hindelbank. Dies endete damit, dass die JVA Hindelbank zahlreiche Anrufe von Impfwilligen entgegennehmen musste.

Die Zukunft der JVA Hindelbank
Im Rahmen der Justizvollzugsstrategie 2017–2032 des Kantons Bern wurde beschlossen, dass die JVA Hindelbank  gesamtsaniert wird. Dafür ist es auch höchste Zeit, wie Annette Keller selbst weiss. So kam es 2017 zu einem Ausbruch aus der Anstalt, wobei festgestellt wurde, dass die Schutzvorrichtungen nicht mehr den Anforderungen entsprechen. Um bis zu den Sanierungen die Sicherheit der Insassinnen (und der Bevölkerung) garantieren zu können, wurde indes mehr Sicherheitspersonal engagiert. Die Schwierigkeit besteht nun darin, auf gleichem Raum eine höhere Sicherheit und gleich viele Zellen (welche ausserdem von 8 auf 12 m2 aufgestockt werden müssen) umzusetzen.

Balance zwischen Nähe und Distanz
Für Annette Keller, welche einen beruflichen Hintergrund als Primarlehrerin und Pfarrerin hat, steht der Mensch im Mittelpunkt ihrer Arbeit: «Jeder Mensch hat auch gute Seiten. Es ist wichtig, nie jemanden aufzugeben.» Auch ihr geht die Arbeit im Justizvollzug nahe: «Es macht bescheiden, wenn man sieht, aus welchen Situationen manche Menschen kommen. Um sie auf ein rückfallfreies  Leben vorzubereiten, ist es wesentlich, dass alle Mitarbeitenden eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Insassinnen halten.»

David Kocher

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