Ein Leben unter Königinnen und Königen, Prinzessinnen und Prinzen

  04.02.2021 Aktuell, Politik, Foto, Region, Kultur

Das Leben der europäischen Königsfamilien und Adelshäuser heute und in der Vergangenheit weckt stets Interesse und wird von einer breiten Öffentlichkeit nach wie vor mit grosser Faszination verfolgt. Der Emmentaler Robert Stuker (1863 –1940), geboren in Grünenmatt, Gemeinde Lützelflüh, bewegte sich zu Lebzeiten in adligen Kreisen und avancierte zu einem gern gesehenen Gast an den Höfen Europas. Er wirkte in Griechenland als Prinzenerzieher, stand in Kontakt mit mächtigen Herrschern und einflussreichen Regenten und erlebte Revolutionen und Kriege hautnah mit. Sein bewegtes Leben bietet Einblick in eine schillernde Epoche.

Die Eltern
Der Vater Johannes Stuker, geboren in Bowil, schlug eine Laufbahn als Schulmeister ein und unterrichtete zunächst in Heimberg in Thun und an der Dorfschule in Lützelflüh, bevor er 1841 eine Stelle als Oberlehrer in Grünenmatt antrat. Er pflegte engen Kontakt zu Albert Bitzius, der damals als Schulkommissär des Kreises Lützelflüh amtierte. Bitzius erkannte Stukers Talent als Pädagoge, förderte ihn nach Kräften und suchte oft seine Gesellschaft. Der Lehrer war auch mit Philipp Emanuel von Fellenberg, dem Gründer der Erziehungsanstalten von Hofwil, bekannt. 1845 heiratete er Verena Iseli, die Tochter des Gerichtssässen und wohlhabenden Grossbauern Jakob Iseli vom Pfaffenboden. In der Folge machte sich Stuker weit über die Gemeindegrenzen hinaus einen Namen als engagierte Lehrperson und Experte für landwirtschaftliche Fragen. In Grünenmatt war er fest verwurzelt und wirkte als Theaterregisseur und Chorleiter. Nach achtzehn Jahren Ehe erfüllte sich endlich der lang gehegte und praktisch schon aufgegebene Kinderwunsch: Am 18. Februar 1863 erblickte Johann Robert Stuker, das einzige Kind des Paares, das Licht der Welt.

Eine Entscheidung, die Robert Stukers Leben für immer veränderte
Bereits im Knabenalter erwies sich Robert als äusserst aufgeweckt und wissensdurstig. Schwere körperliche Landarbeit war ihm ein Gräuel, viel lieber beschäftigte er sich mit Lesen und Zeichnen. Von den Dorfbewohnern wurde er deshalb scherzhaft als «Prinzlein» bezeichnet. Die Eltern förderten seine Talente und ermöglichten ihm eine gute Ausbildung: Nach Absolvierung der Primarschule in Grünenmatt folgten verschiedene Sprachaufenthalte im In- und Ausland. Robert Stuker erwarb sich das Sekundarlehrerpatent, anschliessend studierte er an der philosophischen Fakultät in Basel und doktorierte in London.
Die modernen Sprachen waren seine grosse Leidenschaft – mit 23 Jahren beherrschte er bereits mindestens fünf Fremdsprachen fliessend, unzählige weitere folgten.
Als sich der griechische Prinz Alexander Soutzso bei der Universität Bern im Jahr 1888 nach einem fähigen und wohlgebildeten Sprachspezialisten erkundigte, wurde Stukers Name genannt. Darauf erhielt der junge Mann aus dem Emmental das lukrative und abenteuerliche Angebot von Soutszo, in Athen als Erzieher und Lehrer von dessen Sohn zu wirken. Stuker ergriff die einmalige Chance – eine Entscheidung, die sein Leben für immer veränderte!
In Griechenland wurde Stuker liebenswürdig empfangen. Mit der Familie des Arbeitgebers verstand er sich ausgezeichnet. Bald knüpfte er Kontakte zu den angesehensten Persönlichkeiten von Athen. Im Jahr 1890 folgte – nach einer kurzen Rückkehr nach Grünenmatt, weil seine Mutter erkrankt war – die Berufung zum Prinzenerzieher an den griechischen Königshof unter Georg I.

Prinzenerzieher, Kammerherr, Hofbibliothekar und Sekretär des Königs
Georg I. aus dem dänisch-deutschen Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg war im Jahr 1863 von der griechischen Nationalversammlung zum König gewählt worden. Der konstitutionelle Monarch, der mit der Grossfürstin Olga Konstantinowna, einer Enkelin des Zaren Nikolaus I. verheiratet war, führte im Vergleich zu anderen Königshöfen ein eher grossbürgerliches Leben ohne allzu verschwenderischen und luxuriösen Prunk und zeigte sich volksnah. Stuker gewann als geschickter und verantwortungsbewusster Erzieher und Lehrer der zwei jüngsten Königssöhne von insgesamt sieben Kindern rasch die Zuneigung der königlichen Familie. Um den Unterricht anziehend zu gestalten, unternahm er mit den ihm anvertrauten Prinzen zahlreiche Exkursionen zu antiken Stätten, archäologischen Fundstellen und kulturellen Einrichtungen. Wichtig war es ihm, seinen Zöglingen eine demokratische Einstellung zu vermitteln – deshalb achtete er auf den Umgang mit gleichaltrigen Kindern aus dem Volke, welche zuvor sorgfältig ausgewählt wurden. Besonders eng verbunden fühlte sich Stuker mit dem kleinen Christophor, dem jüngsten Prinzen.
Als Stuker seine Aufgabe als Erzieher allmählich als erfüllt ansah, übertrug ihm die Königsfamilie neue Ämter – sie war nicht gewillt, den herzensguten Emmentaler, charmanten Gesellschafter und weitsichtigen Berater fortziehen zu lassen. Im Jahr 1902 wurde er zum Königlichen Kammerherrn ernannt, später zum Hofbibliothekar und schliesslich zum persönlichen Sekretär des Königs. Stuker begleitete Familienmitglieder auf Reisen, übernahm heikle diplomatische Missionen, avancierte zum Berater des Königs und erhielt Einblick in geheime Staatsdokumente.

Aussergewöhnliche Freundschaften
Robert Stukers Leben war reich an aussergewöhnlichen Erlebnissen, Begegnungen und Abenteuern. Als im Jahr 1896 die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen stattfanden, sass er gemeinsam mit der Königsfamilie auf der Tribüne. Mit Baron Pierre de Coubertin, dem Gründer des Internationalen Olympischen Komitees, pflegte er eine freundschaftliche Beziehung. Er wohnte der Krönung des englischen Königs Edward VII. am 9. August 1902 in der Westminster Abbey bei und speiste bei Besuchen in London mit dessen Gemahlin Alexandra. Mit Kaiser Wilhelm II. unterhielt er sich, wenn dieser in den Ferien auf Korfu weilte. Mit der Prinzessin und Zoologin Therese von Bayern sowie mit Eugénie de Montijo, der ehemaligen Kaiserin Frankreichs und Gemahlin von Napoleon III., verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen.

Auszeichnungen und Ehrungen
Als um die Jahrhundertwende Kaiser Menelik II. von Äthiopien die griechische Königsfamilie besuchte, konnte sich Stuker als einziger der Anwesenden auf Arabisch mit ihm verständigen. Menelik zeigte sich hocherfreut. Er war entschlossen, den Schweizer in seine Dienste zu nehmen und bot ihm das Doppelte seines bisherigen Verdienstes an. Darüber zeigte sich Georg I. natürlich nicht erfreut. Um den Wünschen des hohen Gastes aber dennoch entgegenzukommen und ihn nicht zu desavouieren, gewährte er Stuker Urlaub, damit dieser anschliessend mit dem afrikanischen Herrscher mehrere Wochen lang quer durch Europa von Hof zu Hof reisen konnte. Zum Dank erhielt er den Grossen Stern des Ordens vom Siegel Salomons, ein wertvolles Juwel mit eingesetzten Edelsteinen – die höchste äthiopische Auszeichnung. Auch zahlreiche weitere Titel und Ehrungen von verschiedenen Staaten wurden ihm verliehen: Stuker durfte sich als Baron, Pascha und Commendatore bezeichnen.

Abenteuer in Russland
Verschiedene Aufträge führten Stuker – oftmals in Begleitung der Königin und ihres jüngsten Sohnes – nach Russ­land. Im Sommer 1911 erteilte ihm Zar Nikolaus II. eine heikle und gefährliche Geheimmission. Der Emmentaler wurde in das unruhige Emirat Bochara gesandt, wo es immer wieder zu Aufständen gegen das russische Joch kam. Stukers Aufgabe bestand darin, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, um die Bande zwischen dem Zaren und dem Emir zu festigen. Tatsächlich konnte Stuker den asiatischen Herrscher für sich einnehmen. Aus seinem Besuch resultierte eine Freundschaftsbotschaft, welche die bestehenden Konflikte entschärfte.
Auch dem sagenumwobenen Rasputin, einem russischen Wanderprediger, begegnete Stuker. Die Zarin Alexandra zeigte sich überzeugt, nur Rasputin sei in der Lage, die Hämophilie ihres Sohnes zu heilen, und war ihm praktisch hörig. Aus diesem Grund avancierte der vermeintliche Wunderheiler mit seinem ausschweifenden Lebensstil zunehmend zu einer Schlüsselfigur am Hofe des Zaren. Stuker erkannte deutlich den unheilvollen Einfluss von Rasputin, den er in einem Brief mit folgenden Worten beschrieb: «Seine Sprache ist die eines ungebildeten Bauern, vermengt mit nicht wiederzugebenden Kraftausdrücken; das Wort ‹Aristokraten› spricht er mit besonders hässlicher Betonung aus – er hasst unsere Klasse. Ein Gemisch von Dummheit und Schläue drückt sich in seinem Gesicht aus; mit stechenden Blicken schien er mich hypnotisieren zu wollen. Dieser Mann ist kein Umgang für den russischen Kaiser …».

Unruhen, Krieg und Revolution
Die Machtverhältnisse in Griechenland waren keineswegs stabil. Das Land wurde immer wieder von Unruhen erschüttert. Internationale Spannungen und militärische Auseinandersetzungen auf dem Balkan verkomplizierten die Lage. König Georg I. fiel im Jahre 1913 einem anarchistischen Attentat zum Opfer. Sein ältester Sohn Konstantin übernahm den Thron. Der Ausbruch des 1. Weltkriegs im Jahr 1914 – die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – liess das fragile Machtgefüge vollends zerbrechen. In mehreren Staaten führten die durch den Krieg ausgelösten politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen zum Untergang der Königshäuser. Stuker erlebte dramatische Szenen. Als in Griechenland ein Aufstand ausbrach, verschanzte er sich am Boden liegend im Königspalast, während die Fenster im Kugelhagel zersplitterten. Im Sommer 1916 reiste Stuker quer durch das kriegsversehrte Europa nach Russland, um Olga Konstantinowna in Sicherheit zu bringen. Die Zarenfamilie und der Grossteil des Adels wurden nach der bolschewistischen Machtergreifung im Oktober 1917 und dem Ausbruch des Bürgerkriegs von den Revolutionären ermordet.

Zeremonienmeister und Dolmetscher beim Vatikan
Ein Grossteil der griechischen Königsfamilie lebte nach der Abdankung von Konstantin I. von 1917 bis 1920 in der Schweiz im Exil, ihr Vermögen hatte sie bei der Flucht zurücklassen müssen. Stuker unterstützte sie sowohl finanziell als auch politisch, in dem er ihre Interessen in zahlreichen Schriften vertrat. Nach einer kurz währenden Rückkehr nach Griechenland von Konstantin I. 1920, folgten weitere Jahre im Exil, unter anderem in der Schweiz und in Italien. Stuker kümmerte sich um die Familie und blieb ihr verbunden. Im Jahr 1924 erhielt er in Rom ein einmaliges Angebot: Papst Pius XI. ernannte den reformierten Stuker zum Zeremonienmeister und Dolmetscher des Heiligen Stuhls – ein Amt, das er bis 1935 ausübte und durch das er zahlreiche weitere Staatschefs, Regenten und Herrscher kennenlernte.

Tod in Athen
Seinen Lebensabend verbrachte Stuker auf Schloss Gerzensee. 1939 besuchte er, gesundheitlich bereits schwer angeschlagen, auf Einladung von Prinz Christophor noch ein letztes Mal sein geliebtes Griechenland. Dort verstarb er am 12. Januar 1940 kurz nach seiner Ankunft im Alter von 77 Jahren. Beileidsbekundungen aus aller Welt trafen in Athen ein. Der Emmentaler Robert Stuker hatte im Laufe seines Lebens die Sympathie und Gunst unzähliger Fürsten und Könige, Staatsoberhäupter und Politiker gewonnen und einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Wohl kaum ein anderer Schweizer verfügte über ein so immenses Kontaktnetz zu den Herrschern der Welt. Neun Tage nach Stukers Tod verschied ebenfalls sein Freund und ehemaliger Schüler Prinz Christophor.

Markus Hofer

Quellennachweis: Marta Meyer-Salzmann: Robert Stuker (1863 –1940). Das Emmental und Griechenland: Prinzenerzieher am Königshof in Athen, Freund und Berater grosser Herrscher, Zürich 1996. Jürg Stuker: Die grosse Parade. Glanz und Untergang der Fürsten Europas, Olten 1971.


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