Moskau retour als letzte Chance

  11.02.2021 Aktuell, Foto, Burgdorf, Gesellschaft

Seit sich der Burgdorfer Markus Oppliger, der an Multipler Sklerose (MS) leidet, in Moskau in einer spezialisierten Klinik einer Stammzellentransplantation unterzog, ist knapp ein Jahr vergangen. Am Morgen des 10. März 2020 begab er sich in seinem Rollstuhl im Flughafen Zürich-Kloten zum Check-in-Schalter – und bereits am Abend bezog er sein Bett im renommierten A. A. Maximov Center in Russ­land. «Da sich meine gesundheitliche Situation seit Jahren kontinuierlich verschlechterte und trotz Medikamenten und verschiedensten Therapien meine Einschränkungen stetig zunahmen, sah ich in dieser Behandlung die einzige Chance, um das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen», erklärt der 53-jährige Vater von vier Kindern im Gespräch mit der Zeitung «D’REGION».
Seine damalige Entscheidung, sich in Moskau behandeln zu lassen, bereut Markus Oppliger im Rückblick keineswegs. Die MS-Stammzellentransplantation verlief erfolgreich: «Meiner Einschätzung nach hat sich der Krankheitsverlauf seither stabilisiert. Zum ersten Mal seit Langem habe ich den Eindruck, dass sich die Symptome nicht verschlimmern. Dies ist ein grosser Erfolg. Mir scheint zudem, dass ich über mehr Kraft und Energie verfüge.»
Obwohl er nach wie vor regelmässig trainiert und leichte Verbesserungen zu sehen sind, hat ihn seine langjährige Krankheit gelehrt, keine allzu grossen Erwartungshaltungen und keinen zu stark überbordenden Optimismus zu entwickeln. «Hoffen kann ich alles, erwarten aber nichts. Diese Einstellung beugt Enttäuschungen vor und dient dem mentalen Selbstschutz. Wichtig ist, nicht aufzugeben.»
Markus Oppligers Biografie ist voller Tragik, weckt aber auch Zuversicht. Sie zeigt, dass sich das Leben trotz widriger Umstände meistern lässt, und dass es sich lohnt, ungeachtet aller harten Schicksalsschläge, den Mut niemals zu verlieren.

Die Diagnose Multiple Sklerose
Markus Oppligers Leidensgeschichte begann im Jahr 2010. Damals erhielt er die Diagnose, an Multipler Sklerose erkrankt zu sein – einer unheilbaren, chronisch entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der das eigene Immunsystem Teile der Nervenfasern zerstört, die massgeblich an der Weiterleitung von Impulsen beteiligt sind. Dadurch können Lähmungserscheinungen auftreten, da Muskelbewegungen nicht mehr richtig koordiniert und Sinnessignale nicht korrekt weitergegeben werden. Die Verlaufsformen sind äusserst unterschiedlich, sodass MS auch als «Krankheit mit den tausend Gesichtern» bezeichnet wird. Die genaue Ursache der neurologischen Erkrankung ist trotz intensiver Forschung nach wie vor nicht bekannt. Momentan wird von einem komplexen Zusammenspiel von genetischer Veranlagung und Einflüssen durch Umweltfaktoren ausgegangen. «Bei mir zeigten sich erste Symptome im Jahr 2007», erinnert sich Oppliger. «Nach einem Fussmarsch von einer halben Stunde begann ich plötzlich, mit dem linken Bein leicht zu hinken. Mit der Zeit traten die Gehstörungen immer häufiger und massiver auf, bis ich schliesslich permanent hinkte und deshalb einen Arzt aufsuchte. Der MS-Befund zog mir völlig den Boden unter den Füssen weg und ich verlor jeglichen Halt. Meine Frau erwartete damals unser viertes Kind.»

Kontinuierliche Abwärtsspirale
Für Markus Oppliger begann eine schwere Zeit. Während MS bei vielen Betroffenen einen schubförmigen Verlauf nimmt, verstärkten sich die Symptome bei ihm chronisch fortschreitend (primär-progredient). «Die kontinuierliche Abwärtsspirale war psychisch sehr herausfordernd und mit viel Stress verbunden», erläutert er.
Die Beziehung mit seiner Ehefrau zerbrach, sodass er sich eine neue Wohnung suchen musste. Später verlor der gelernte Schreiner seine Arbeitsstelle. Markus Oppliger litt an Schmerzen in den Beinen und Füssen, verlor stetig an Kraft und fühlte sich oft müde. Die Medikamente zeigten kaum oder keine Wirkung. Lange Zeit bewegte er sich mithilfe von Wanderstöcken fort, doch schon bald musste er – zunächst nur für längere Strecken, danach immer häufiger auch im Alltag – auf den Rollstuhl zurückgreifen. Seit dem Herbst 2018 benötigt er diesen permanent. «Die Vorstellung, für immer auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein, war für mich ein Albtraum. Doch in gewisser Hinsicht hat mir das Gefährt als Hilfsmittel auch ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit zurückgegeben. Ich bin mobil, kann nach wie vor selber einkaufen und habe mit meinen ältesten Kindern sogar zwei wunderschöne Reisen unternommen – eine nach Venedig und eine nach Florenz. Der Rollstuhl macht die Einschränkungen, mit denen ich leben muss, deutlich sicht- und erkennbar. Ich muss deshalb weniger um Unterstützung bitten und werde vielerorts sehr zuvorkommend behandelt – beinahe wie eine prominente Persönlichkeit. Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist enorm.» Leider verschlechterte sich die Bewegungsfähigkeit des rechten Arms im Laufe der Jahre. Der Rechtshänder Markus Oppliger hat deshalb gelernt, auch mit der linken Hand zu schreiben. Die Einschränkungen gestalteten die Bewältigung des Alltags zunehmend schwieriger.

Glücksfall neue Wohnung
Als Glücksfall erwies sich dann für ihn ein weiterer Umzug in eine neue Wohnung mit Lift am Ludwig-Schläfli-Weg. Als Erstmieter konnte er Einfluss auf den Bau der Küche und des Badezimmers nehmen und seine Bedürfnisse einbringen. Die Wohnung wurde komplett rollstuhlgängig konzipiert: «Obwohl ich eigentlich stolze 1,81 Meter gross bin, sind hohe Schränke für mich schwierig bis unmöglich zu bedienen. Alles muss leicht erreichbar sein.» Per Computer entwarf der ausgebildete Schreiner eigens auf seine Situation zugeschnittene Büchergestelle, die er sich dann anfertigen liess: «Ich habe mich mittlerweile sehr gut eingerichtet und fühle mich ausserordentlich wohl. Hindernisse und Barrieren, welche mich in alltäglichen Handlungen einschränken, wurden so weit als möglich minimiert. Dies erleichtert natürlich vieles.»

Überlebensstrategien
Um mit seiner Situation umgehen zu können, entwickelte Markus Oppliger verschiedene Überlebensstrategien. «In schwierigen Phasen konzentriere ich mich stets voll und ganz auf den Augenblick und lebe nur im Moment, im Hier und Jetzt. Die Unsicherheiten, welche die Zukunft mit sich bringt, blende ich dann jeweils systematisch aus. Zudem versuche ich, der Krankheit mit einer Prise Selbstironie zu begegnen. Da meine Mutter aus Irland stammt, liegt mir der schwarze Humor im Blut. Es hilft manchmal, auch über sich selbst zu lachen. Weiter bin ich zur Überzeugung gelangt, dass meine Erkrankung letztlich irgendeine tiefere Bedeutung haben wird – auch wenn ich diese momentan noch nicht vollständig erkenne. In den letzten Jahren bin ich aufgrund all der Probleme, mit denen ich mich konfrontiert sah, innerlich gewachsen und reifer geworden. Ich habe neue Aspekte des Lebens schätzen und lieben gelernt und bin mir gegenüber weniger streng. Vor allem meine Kinder geben mir enorm viel Kraft. Für sie will ich auch in Zukunft da sein.»

Die Zeit tickt
Seit Juli 2018 wird neu auch in der Schweiz für MS-Patientinnen und -Patienten eine Stammzellentherapie im Rahmen einer Registerstudie am Universitätsspital Zürich angeboten, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Allerdings erfüllen längst nicht alle Erkrankten die Kriterien für eine Behandlung. Zu ihnen gehörte eben auch Markus Oppliger. «Aufgrund meines Alters, dem fortgeschrittenen Krankheitsbild, den damit verbundenen Einschränkungen und weil sich keine akuten Entzündungen zeigten, erhielt ich im März 2019 eine Absage für die Therapie. Dies war sehr schwierig für mich. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft», erzählt er. Bereits zuvor verfolgte er aufmerksam Informationen über die Behandlungserfolge in Moskau. Dort wurden in den vergangenen zehn Jahren rund 2000 Patientinnen und Patienten aus aller Welt behandelt. Als ihm eine Bekannte über ihre positiven Erfahrungen nach einem Eingriff am A. A. Maximov Center berichtete, fasste er den Entschluss, ebenfalls nach Moskau zu reisen. «Ich hatte nichts zu verlieren», so Oppliger.

Riesige Solidarität
Zunächst musste er allerdings die Finanzierung der Behandlung sicherstellen – die Kosten beliefen sich auf rund 50 000 Franken. Mithilfe seines Bruders rief er eine eigene Website ins Leben, auf der er über sich und seine Situation informierte und einen Spendenaufruf lancierte (www.markusop­pliger.ch). Aus seinem Bekanntenkreis erhielt er ungemein viel Support. «Die Solidarität war riesig – auch Personen, die ich kaum oder gar nicht kannte, unterstützten mich. Dies gehört zu den schönsten Erfahrungen in meinem Leben. Einer meiner Söhne zog mit seinen Schulkollegen von Tür zu Tür, um für mich zu sammeln. Meine jüngsten Kinder backten Kuchen und verkauften diese. Das ganze Unterfangen nahm eine unglaubliche Dynamik an. Insgesamt erhielt ich weit über 200 Spenden aus der ganzen Schweiz. Kurz vor meinem Flug nach Moskau, am 10. März 2010, hatte ich den erforderlichen Betrag beisammen.»
Neustart des Immunsystems
Die Behandlung in Moskau empfand Markus Oppliger als höchst professionell. Mit den Ärzten und dem Pflegeteam verständigte er sich auf Englisch oder via Google Translator. Nach einer eingehenden Untersuchung wurden ihm Stammzellen aus dem Knochenmark entnommen. Anschliessend musste er sich einer Chemotherapie unterziehen, welche das fehlerhaft arbeitende Immunsystem zerstörte. Mit der Wiedereinführung der körpereigenen Stammzellen wurde das Abwehrsystem anschliessend neu gestartet. Das Verfahren verlief ohne grössere Komplikationen. «Auch die Chemotherapie, vor der ich grosse Angst hatte, verkraftete ich gut», freut sich Oppliger im Rückblick. Im April 2020 trat er – äusserst geschwächt, aber glücklich – die Rückreise in die Schweiz an, die sich infolge der Coronakrise weitaus abenteuerlicher gestaltete als erwartet. Dank einer Rückholaktion unter der Schirmherrschaft des EDA flog Markus Oppliger gemeinsam mit anderen gestrandeten Passagieren mit einer AirFrance-Maschine zunächst nach Paris, um von dort aus mit dem Car in die Schweiz zurückzukehren.  

Durch Hobbys keine Langeweile
Bei unserem Treffen in der vergangenen Woche fühlte sich Markus Oppliger sichtlich wohl. «Jahrelang hatte ich das Gefühl, mich auf Glatteis zu bewegen und immer weiter ins Schlingern zu geraten. Ständig fühlte ich ein Damoklesschwert über meinem Kopf. Nun habe ich – dank der Therapie in Moskau – festen Halt gewonnen.» Vor Kurzem entdeckte der Familienvater seine Freude am Kochen. Mit Enthusiasmus widmet er sich der Küchenarbeit und experimentiert mit verschiedenen Aromen, Farben und Düften. «Noch gelingt mir nicht alles so, wie ich mir das wünsche, aber ich freue mich, Gäste mit einem feinen Essen zu verwöhnen», lacht er.
Zu seinen weiteren Hobbys gehört auch das Lesen und Schreiben. Im Jahr 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch im Eigenverlag mit dem Titel «Mit dem Rollstuhl nach Venedig – oder wie eine Reise zum Mond». Ob noch ein zweites Buch folgen wird, steht in den Sternen. Langweilig wird es Markus Oppliger, der eine Teilzeitstelle im Administrationsbereich der BEWO ausübt, ganz sicher nicht.
Mittlerweile kann er wieder mit mehr Zuversicht nach vorne schauen. Es ist Markus Oppliger zu wünschen, dass das Fortschreiten der heimtückischen Krankheit tatsächlich unterbunden wurde – und dass sein Blick in die Zukunft nicht durch weitere Beeinträchtigungen getrübt wird.

Markus Hofer


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