50 Jahre Frauenstimmrecht

  16.03.2021 Aktuell, Politik, Foto, Region, Burgdorf, Gesellschaft

Natalie (52) findet es bedenklich, dass die Schweiz das Frauenstimmrecht erst vor 50 Jahren eingeführt hat. Sie vergleicht mit Kolumbien, wo ihre Grossmutter und ihre Mutter bereits viel früher stimmen durften, obwohl deren Land als rückständiger galt. Natalie nimmt ihr Stimmrecht seit ihrer Volljährigkeit wahr. Sie erinnert sich noch genau an ihren ersten Urnengang, bei dem über die GSOA-Initiative (Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee) abgestimmt wurde.
«Wir sind aber noch weit entfernt von Gleichberechtigung, sei das im privaten oder wirtschaftlichen Bereich», ist die Befragte überzeugt. Gleichberechtigt heisse nicht nur an die Urne zu gehen. Sie bedauert beispielsweise, dass Frauen nicht wütend reagieren dürften. Bei Männern sei Wut in Ordnung. Eine Frau hingegen werde in derselben Situation als hysterisch bezeichnet oder sie müsse sich die Frage anhören, ob sie ihre Tage hätte. Natalie bezeichnet die Frauen als starkes Geschlecht, weil sie über ein enormes Durchhaltevermögen verfügen. Dass Männer mehr Muskelkraft hätten, ändere daran nichts.

 

Das Frauenstimmrecht wäre bereits früher nötig gewesen, meint Heidi (65). Sie bezeichnet dieses Recht als Zwischenziel. Die Lohn-Ungleichheit müsse dringend angegangen und der Vaterschaftsurlaub angepasst werden. Dann könnten Frauen nach der Geburt wieder früher in den Arbeitsprozess einsteigen. Sie erinnert sich an den denkwürdigen Tag im Februar 1971, als die Frauen die Annahme des Stimm- und Wahlrechts bejubelten. Ihr Vater sei anfangs misstrauisch gewesen, doch die Mutter hätte sich nicht einschüchtern lassen. Bereits bei der ersten Abstimmung sei sie dabei gewesen. Auch Heidi selber nahm ihr Recht wahr, sobald sie das Stimmrechtsalter erreicht hatte.

 

Hans (77) wuchs auf einem Bauernhof mit vier Geschwistern auf. Die Arbeitsteilung war geregelt. Der Vater arbeitete im Stall und auf den Feldern. Zudem war er als Gemeinderat politisch aktiv. Die Mutter erledigte die Aufgaben im Haus und Garten, wo sie neben den täglichen Arbeiten eine Lehrtochter ausbildete. Sie empfand die Einführung des Frauenstimmrechts nicht als sensationell, denn ihr fehlte die Zeit für Politik. Auch für Hans war das damals kein Thema, denn er war frisch verheiratet und setzte mit der Familiengründung andere Prioritäten. Er war aber nie dagegen und findet es richtig, dass Frauen ihre Stimme abgeben können, vor allem diejenigen, die als Single leben. Seine Frau und er diskutieren über Abstimmungsthemen und gehen gemeinsam stimmen, wobei sie nicht immer gleicher Meinung sind. Hans freut sich, dass Frauen ihre politischen Pflichten wahrnehmen, sei es auf nationaler, kantonaler oder Gemeindeebene.

 

«Erst seit 50 Jahren», äussert sich Martina (33) zum Jubiläum. Sie findet es erschreckend, dass das Frauenstimm- und Wahlrecht erst in der Generation ihrer Eltern eingeführt wurde. Gerne erinnert sie sich an die Zeit, als die ganze Familie gemeinsam zur Urne ging. Sie bedauert es, dass viele Männer und Frauen auf eine Stimm­abgabe verzichten.
Das Frauenstimmrecht sei nur ein Ziel auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Während ihrer Schwangerschaft sei es ihr immer erstrebenswert erschienen, nach der Geburt so bald als möglich wieder Teilzeit auf ihrem Beruf zu arbeiten. Nun merke sie jedoch, dass ihr auch das Muttersein viel bedeute und sie beiden Aufgaben, der beruflichen wie der mütterlichen, einen hohen Stellenwert einräume. Erst jetzt werde ihr bewusst, dass die Gesellschaft darauf tendiere, berufliche Tätigkeiten nicht gleich zu gewichten. Eine studierende Person soll nicht mehr Anerkennung verdienen als eine Mutter, die sich aus freien Stücken entscheidet, mehr Zeit der Erziehung zu widmen. Auch hier gehe es um Gleichberechtigung.
Militär- und Zivilschutzpflicht sollte für Männer und Frauen freiwillig sein, bei gleichem Lohn.

 

Die Fragen treffen auf offene Ohren. Nadja (44) beschäftigt sich momentan mit dem Buch «Gruss aus der Küche – Texte zum Frauenstimmrecht» genau mit diesem Thema. Es sei 1971 höchste Zeit gewesen, den Frauen ein Stimmrecht zu geben. Diesbezüglich war die Schweiz ein Entwicklungsland. Während der letzten 50 Jahre sei viel passiert. Damals war das Patriarchat ausgeprägt, heute existiere es noch abgeschwächt.
Nadja wurde nie daran gehindert, das zu tun, was ihr Wunsch war. Doch Frauen müssten sich behaupten, um etwas zu erreichen. Dass sie das kann, beweist sie mit dem Geschäft, das sie mit einer Freundin realisiert hat. Ihr Ziel ist es, niemanden zu «schubladisieren».  Gleichberechtigung ist nicht nur ein Thema zwischen Mann und Frau, sondern für alle menschlichen Beziehungen.

 

Christoph (72) und seine Frau haben das gleiche Studium absolviert und danach den gleichen Beruf ausgeübt. Als die beiden jung heirateten, durfte seine Frau selbst kein Konto bei der Bank eröffnen. Die Gesetzesänderungen der 80er- und 90er-Jahre und das Frauenstimmrecht waren wichtige Schritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Seine erste Konfrontation mit Gleichstellungsfragen erlebte Christoph bereits als ungefähr Zehnjähriger, als seine Eltern am Familientisch über das Buch «Frauen im Laufgitter» diskutierten. Das Buch von Iris von Rothen war einer der ersten literarischen Proteste im Kampf für die Frauenrechte.
Berufstätige Eltern mussten innovativ sein, damit sie ihrer Arbeit nachgehen konnten. So organisierte er mit seiner Frau und befreundeten Familien ein Schülerhaus, was einer heutigen Tagesstätte oder einem Mittagstisch nahekommt. Das Ziel, allen Eltern bezahlbare Betreuung zu bieten, sei noch nicht erreicht.
Die Änderung des Scheidungsrechts, das die Privilegierung der Frauen aufhebe, finde er gerechtfertigt. Allenfalls wäre ein Zivildienst für Frauen in Erwägung zu ziehen. Dieser dürfe jedoch das Pflegepersonal nicht konkurrenzieren. 

 

Jürg (75) erinnert sich ans Jahr 1959, als die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen durch eine Volksabstimmung abgelehnt wurde. Seine Grosseltern und seine Mutter fanden es nicht nötig, dass Frauen ihre Stimme abgeben, doch Vater hätte es befürwortet.
In den 1960er-Jahren erlebte er als junger Theologe, dass Frauen nicht als gleichberechtigt galten. So gab die Bewerbung einer Theologin zu reden: Der reformierte Pfarrer war überzeugt, dass eine Frau kein Pfarramt leiten könne. Er selbst habe die Zusammenarbeit mit Frauen in der Seelsorge geschätzt, denn sie hätten eine neue Optik reingebracht und mit der feministischen Theologie
interessante Fragen aufgeworfen.
Jürg konnte sich früher nicht vorstellen, dass Frauen Konkurrenzkämpfe führen oder Machtgelüste empfinden. Die Erfahrung hat das Gegenteil bewiesen. Dennoch wünscht er sich mehr Präsenz von Frauen in der Politik und Wirtschaft. Mit seiner Frau führt er politische Diskussionen und beide nehmen ihr Stimmrecht wahr.

 

«Es ist ein Armutszeugnis für die Schweiz, dass das Frauenstimmrecht erst 50 Jahre alt ist», meinte Beatrix (46). Die freie Meinungsäusserung sei ein wichtiger Schritt, doch dieser bedeute noch keine Gleichberechtigung. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sei eines der offenen Themen.
Beatrix erinnert sich nicht an sachbezogene politische Diskussionen in der Herkunftsfamilie. Ihre Mutter ging stimmen, der Vater hatte kein Stimmrecht, weil er sich als Deutscher nicht einbürgern wollte. Trotzdem war er politisch stärker interessiert als die andern Familienmitglieder.
Sie ist der Meinung, dass gleiche Rechte und Pflichten zusammengehören, was sie als Mitglied der Feuerwehr auch lebt. Sie sei sich bewusst, dass Gleichberechtigung nicht immer ein Vorteil ist.

 

Interview: Helen Käser


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