Mit der Kamera festhalten, was das eigene Auge nicht sieht

  02.03.2021 Aktuell, Foto, Kultur, Gesellschaft, Lyssach

Heutzutage macht fast jeder regelmässig Bilder. So ziemlich jedes Handy verfügt mittlerweile über eine leistungsstarke Kamera, welche es uns ermöglicht, schöne Momente und Erlebnisse festzuhalten. Noch nie war es so einfach, das, was wir sehen, abzulichten und anderen zu zeigen. Auch der Lyssacher Hans Schär ist Hobbyfotograf. In den vergangenen Jahren hat er sich aber einer ganz besonderen Art der Fotografie gewidmet – der Tropfenfotografie. Mit seiner Kamera hält er fest, was wir mit unseren eigenen Augen gar nicht wahrnehmen können: Momentaufnahmen von Wassertropfen, wie sie auf die Wasseroberfläche treffen. Umso faszinierender die Resultate, welche uns an Bekanntes erinnern: Von blühenden Blumen über schillernde Kronen bis zu grazilen Ballerinas ist alles dabei.

Wer das Virus einfängt ...
Begonnen hat Hans Schärs Leidenschaft im Februar 2017. Mit einer kleinen Künstler­gruppe aus verschiedenen Bereichen (Malerei, Schmiedekunst, Skulpturen) beteiligte er sich als Fotograf bereits an einigen Ausstellungen. Als Schär sich für eine weitere Ausstellung mit dem Thema «Wasser» auseinandersetzte, recherchierte er im Internet und stiess dabei auf Bilder, wie er sie zuvor noch nie gesehen hatte. Bei der Tropfenfotografie werden fallende Tropfen so präzise und schnell festgehalten, dass sie eine komplett neue Sichtweise auf etwas freigeben, was unserem menschlichen Auge verwehrt bleibt. Schnell machte Hans Schär selbst erste Versuche in dieser für ihn neuen Art der Fotografie. Zuerst fotografierte er im Lavabo Tropfen aus dem Wasserhahn, später mithilfe eines Infusionssets, welches er von seinem Arzt erhielt. Der pensionierte Lokführer teilt seine geschossenen Bilder auch gerne im Internet. Schon früh bemerkte dort ein User: «Wie ich sehe, hat dich das Tropfenvirus auch befallen.» Heute, einige Jahre und mehrere Tausend Tropfenbilder später, muss Hans Schär lachen, als er auf diesen Kommentar angesprochen wird: «Es ist wirklich fast wie ein Virus. Wenn es einen einmal gepackt hat, kommt man fast nicht mehr davon los.»
Mittlerweile ist der 65-Jährige nämlich bestens ausgerüstet. In seinem Keller betreibt er eine Hightech-Tropffotografie­anlage. Über eine Holzkonstruktion sind bis zu drei Wasserbehälter mit Magnetventilen befestigt, dahinter Blitzlichter mit verschiedenfarbigen Folien und davor eine Digitalkamera. Alle diese Elemente sind über einen Computer und eine Schaltkonsole vernetzt.

Wie funktioniert es?
Die Tropfenfotografie ist, vor allem in der ausgeklügelten Variante per Magnetventile, komplexer, als man vielleicht erwartet. Dies beginnt schon beim Grundmaterial – dem Wasser. Hier tropft nicht etwa ganz normales Leitungswasser. Die Wasserspender, aus welchen die Tropfen via Magnetventil auf die Millisekunde genau abgelassen werden, sind mit Verdickungsmittel angereichert, um einen dickflüssigeren und möglichst konzentrierten Tropf­effekt zu erreichen. Hans Schär arbeitet mit verschiedenen Tropffarben. So wird dem Wasser oftmals Lebensmittelfarbe beigemengt, um spektakuläre Farb­effekte zu kreieren. Sehr wichtig ist die Hintergrundbeleuchtung für die Komposition der Bilder. Ziel ist es, die Bilder nach der Aufnahme möglichst wenig zu bearbeiten. Nur noch einzelne Tröpfchen werden etwa retouchiert, um ein schöneres Gesamtbild zu erzielen. Für eine atmosphärische Hintergrundbeleuchtung hat der 65-Jährige vier Blitzlichter installiert, welche die Tropfen durch eine Plexiglasscheibe im Augenblick des Aufschlags im Wasserbecken beleuchten. Die Blitzlichter sind mit verschiedenen farbigen Folien bezogen, um ganz spezielle Farbstimmungen zu ermöglichen. Das Wichtigste an der ganzen Prozedur ist – neben dem Wasser –  die Kamera selbst, denn ohne Kamera keine Bilder. Hans Schär führt vor, wie die Kamera richtig eingestellt wird, um die fallenden Wassertropfen absolut scharf einzufangen. Mithilfe des Computers und einer Schaltkonsole werden Kamera, Blitzgeräte und Ventile elektronisch verbunden. Mit einem speziellen Programm werden dann die einzelnen Werte genau bestimmt. Nach wie vielen Millisekunden öffnet sich welches Ventil? Wie lang bleibt dieses offen, bevor es wieder schliesst? Wann fällt der zweite Tropfen, um einen Zusammenprall zu erreichen? Und wann soll die Kamera auslösen? Sind alle Daten eingegeben, wird der Knopf gedrückt. Die Tropfen fallen, die Blitzlichter lösen aus und die Kamera klickt. Pro Kunstwerk wird nur ein Bild geschossen. «Jeder Tropfen ist einzigartig», weiss Hans Schär. Auch bei gleichbleibender Einstellung entsteht bei jedem Knopfdruck ein anderes Tropfenbild. «Es hat auch mit Glück zu tun», so Schär. «Und es ist sehr spannend, da man nie weiss, was dabei herauskommt.»

Von Königskronen und Balletttänzerinnen
Was genau man mit den Bildern erreichen will, hängt stark von den bereits angesprochenen Einstellungen ab. Soll es etwa eine schöne Wasserkrone werden, so muss die Kamera den Moment des Einschlags festhalten. Einen kurzen (sehr kurzen!) Moment später folgt der Krater, aus welchem wiederum einige Millisekunden später eine Wassersäule zurückschiesst. Der Fotograf muss also auf die Millisekunde genau planen, was für Wasserfiguren er einfangen möchte. Auch Fallhöhe und Wassertiefe beeinflussen das Resultat. Hier fangen nun die Spielereien mit den verschiedenen Ventilen an. Auf eine rote Wassersäule kann man etwa einen blauen Wassertropfen einschlagen lassen, gefolgt von einem weiteren grünen Tropfen. «Alle, die dieses Hobby ausüben, sind wahre Tüftler», schwärmt Schär. «Nicht jeder verrät dabei seine Tricks.» Hans Schär schwört etwa auf den oberösterreichischen Highspeedfotografen Daniel Nimmervoll. «Wenn man nach der Tropfenfotografie sucht, stösst man früher oder später auf ihn», lacht Schär. Daniel Nimmervoll hat mehrere Bücher zur Highspeed- und Tropfenfotografie veröffentlicht. Hans Schär hat auch schon persönlichen Kontakt mit dem Tropfenmeister geschlossen. So besuchte er 2019 beim Profifotografen ein Coaching zur Tropfenfotografie.

Geduld
Neben Wasser und einer Kamera ist noch etwas anderes ausschlaggebend für schöne Tropfenbilder; etwas, was nur beim Fotografen selbst zu finden ist: Geduld. Wenn man aus 300 Versuchen 10 schöne Bilder erhalte, könne man bereits froh sein, weiss Schär und fügt hinzu: «Ohne Geduld ist man hier defintiv beim falschen Hobby.» Da es auch ein bisschen Glückssache ist, muss eine gewisse Frusttoleranz vorhanden sein. Hans Schär weiss aus eigener Erfahrung, dass das Fotografieren auch verleiden kann, wenn über längere Zeit nur «Pflotsch» rauskommt. Er selbst ist nun nach einer längeren Pause zur Tropfenfotografie zurückgekehrt und es hat ihn wieder voll gepackt. Nun verbringt er erneut mehrmals in der Woche einige Stunden im Keller bei seiner selbst gebauten Fotoanlage. An einem Nachmittag kommen so gut mehrere Hundert Bilder zusammen. Insgesamt schätzt der Fotograf die Zahl seiner geschossenen Bilder auf über 20 000. Doch Schär betont erneut: Wirklich brauchbar seien nur die wenigsten. Trotzdem schmücken zahlreiche wunderbare Wasserkreationen die Wände seines Hauses im Lyssachschachen – unzählige weitere lagern eingerahmt im Keller.

Aller Anfang ist einfach
Wer sich nun selbst für die Tropfenfotografie interessiert, kann die ersten Schritte kostengünstig machen. Hans Schär schoss seine ersten Bilder auch im eigenen Lavabo. «Man muss nicht direkt die teuersten Anlagen kaufen. Bereits mit einem Infusionsset oder einer Plastikflasche mit Röhrli kann man es tropfen lassen. Das kostet nicht viel und man erzielt erste tolle Resultate. Wenn man daran Freude hat, kann man weiter aufrüsten», rät der Tropfenfotograf. Eine komplette Tropfanlage ist nämlich nicht gerade günstig: Steueranlage, Blitzgeräte, Magnete und Programm berappen sich bereits ohne Kamera auf über 2000 Franken.
Auch nach Abertausenden von Bildern wartet Hans Schär stets gespannt auf die neuen Resultate: «Ich bin immer überrascht, was dabei entsteht.» Er hofft in Zukunft auf noch spektakulärere und imposantere Tropfenformen. Die Tropfenfotografie ist auch das ideale Hobby zu Coronazeiten. Schliesslich kann es zu Hause und bei jedem Wetter ausgeübt werden.

David Kocher


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