Ältester noch arbeitender Schuhmacher

  13.04.2021 Aktuell, Foto, Wirtschaft, Koppigen

Mit einem zufrieden strahlenden Lächeln empfängt der Rentner seinen Gast. Aufrechten und sicheren Schrittes geht er danach zurück an seinen Arbeitsplatz. Seinen ledernen Hocker, auf dem er früher beim Arbeiten sass, hat er durch einen einfachen Lehnstuhl ersetzt. Die Werkstatt bietet einen Blick in vergangene Zeiten. Auf Regalen stehen Schusterleisten, Ledermuster in allen Farben, Schrauben, Stifte und weitere Ersatzteile, alles fein säuberlich sortiert und beschriftet. Davor sitzt ein Mann, der auf einen enormen Erfahrungsschatz zurückblicken kann.
Max Schär wuchs in Alchenstorf, einem Nachbarsdorf von Koppigen, auf. Er kommt aus einer Schuhmacherdynastie, denn bereits sein Grossvater und Vater arbeiteten als Schuhmacher. Seine Ausbildung in einer Werkstatt in Reiden dauerte drei Jahre. An der Lehrabschlussprüfung in Luzern musste er ein Paar Schuhe von A bis Z selbst herstellen. Dieses sei ihm äusserst gut gelungen, erklärte er. Ein wenig Bedauern darüber, dass er diese Schuhe nicht behalten hat, ist beim Erzählen spürbar. Er erweiterte danach sein handwerkliches Geschick an verschiedenen Orten. In Moutier hatte er Reitstiefel hergestellt, eine anspruchsvolle Handarbeit. In Herzogenbuchsee arbeitete er in der Hug Schuhfabrik mit einigen Hundert Angestellten. Sein Stundenlohn, der nach Lehrabschluss Fr. 1.65 betrug, wurde hier auf Fr. 2.40 erhöht. Das sei damals ein guter Lohn gewesen, denn im Vergleich dazu hätte er für die Krankenkasse pro Monat lediglich Fr. 3.80 bezahlt.

Mit 24 Jahren wurde Max Schär sein eigener Chef
Der junge Berufsmann übernahm die Schuhmacherwerkstatt an der Utzenstorfstrasse 7 in Koppigen von Gottfried Kaderli. Nach drei Jahren konnte er zusätzlich den Schuhladen übernehmen, der bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich von Frau Kaderli betrieben wurde. Seine Frau Erika und er setzten den Schwerpunkt auf den Verkauf. Seinem Handwerk blieb er treu. Mit zwei Angestellten, einer aus Italien und einer aus Österreich, war er dankbar für Aufträge der Armee. Er konnte zeitweise bis zweihundert Paar Schuhe fürs Militär in Handarbeit herstellen. Daneben kümmerte er sich um Reparaturen und stellte gelegentlich orthopädische Schuheinlagen her. Wer nicht bar bezahlen konnte, bekam bis Ende Monat Aufschub. Im Laden verkaufte er Schuhe für den täglichen Bedarf. Damals waren diese keinem Modetrend unterworfen und die Auswahl darum gering. Mit drei verschiedenen Paar Halbschuhen, einigen Bottinen und zwei Paar Hausschuhen konnten die Bedürfnisse der Kundschaft abgedeckt werden. Der Preis war damals, verglichen mit dem Einkommen, deutlich höher. Darum wurden Schuhe mehr wertgeschätzt und gerne zu Weihnachten verschenkt. So kam ein Kunde in den Laden und wollte für seine Gattin Pantoffeln erstehen. Als der Verkäufer ihm die verschiedenen Preise nannte, dachte er kurz nach und meinte dann, er nähme die billigeren, denn die Frau sei manchmal echt gars­tig zu ihm.
1972 erstand Schär das Haus an der Utzenstorfstrasse 12 und zügelte mit Geschäft und Werkstatt in die ehemalige Coop-Filiale. 1984 eröffnete er die immer noch bestehende Filiale in Bätterkinden.

Seit 1991 führen Marcel und Esther Schär das Geschäft «M. Schär Schuhe + Sport AG»
Doch Max Schär blieb seiner Werkstatt treu und übernimmt nach wie vor alle Reparaturen. Die Kundschaft bringt zu diesem Zweck vorwiegend teure Schuhe. Dazu kommt Lieblingsschuhwerk, von dem man sich nicht trennen will. Oft bedeute es eine Herausforderung, abgetragene Schuhe aufzufrischen, doch diese Aufgabe erfülle ihn und halte seinen Geist wach. Viele alte Werkzeuge sind noch heute aktuell, einige mussten im Verlauf der Jahre modernisiert oder ersetzt werden.
Marcel und Esther Schär sind froh, dass sie dank dem aktiven Rentner weiterhin einen Reparaturservice anbieten können. Bei der Übernahme 1991 haben sie das Geschäft renoviert und mit einem Anbau vergrössert, denn längst waren Schuhe ein Modeaccessoire geworden und brauchten mehr Platz. Nicht nur die Jahreszeiten bestimmen das Angebot, sondern auch die Trends. Um den Schuh stets ins richtige Licht zu rücken, haben die Ladenbesitzenden 2012 eine Totalsanierung des Geschäfts mit einem neuen Beleuchtungskonzept vorgenommen. Hier bieten sie nicht nur aktuelle Schuhe an, sondern auch einen Skiservice. Sie vermieten Ski- und Snowboards samt Zubehör, machen Servicearbeiten und passen Bindungen an.

Ein Inserat in der Zeitung «D’REGION»
Als Marcel Schär vor einigen Wochen ein Inserat in der «D’REGION» lancierte, schickte er per Mausklick ein Bild und einen Text an die Inserateannahmestelle. Ein Schmunzeln auf Max Schärs Gesicht verriet, dass dies früher nicht so einfach zu bewerkstelligen war. Wollte er ein Inserat in die Zeitung bringen, musste er zuerst ein «Klischee» anfertigen lassen. Der «Stempel» aus Blei ermöglichte es ihm, ein Sujet in die Anzeige einzufügen. Die kleinen Kunstwerke hat er bis heute aufbewahrt.
Auf die Frage, wie lange er noch arbeiten wolle, meinte er schmunzelnd: «Viele in meiner Familie wurden über 100 Jahre alt, obwohl sie viel gearbeitet haben, einige sogar als Verdingkinder. Mein Ziel ist es, ebenfalls über 100 zu werden.» Darauf nimmt er einen Schuh zur Hand und arbeitet weiter.

Helen Käser


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