Hochmotiviert, um wieder selbstständig zu werden

  03.08.2021 Aktuell, Foto, Burgdorf, Gesellschaft, Region

Peter Leuenberger ist Leiter der Sozialdirektion von Burgdorf. Die Aufgabe seiner Behörde ist vielfältig und manchmal auch undankbar. Die Gründe, warum jemand Sozialhilfe braucht, sind sehr unterschiedlich. Working Poor, Alleinerziehende, psychische und körperliche Probleme, mangelnde Sprachkenntnisse, Arbeitslosigkeit im Alter sind nur einige Stichworte dazu. Im Arbeitsmarkt besteht eine Sockelarbeitslosigkeit, weil Angebot und Nachfrage auch in guten wirtschaftlichen Zeiten nicht übereinstimmen, was sich bei einer Rezession noch verstärkt. 635 Leute (Stand Ende 2020) werden in Burgdorf von den sozialen Diens­ten unterstützt. Weil die Gründe so unterschiedlich, sind es auch die Mittel, um die Betroffenen wieder unabhängig zu machen.

Detailhandel ideal
Die meisten Bezügerinnen und Bezüger wollen wieder arbeiten und der Staat hat ein grosses Interesse, die Bemühungen, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, zu unterstützen. Das funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht immer, wobei fehlende Motivation selten der Grund ist. Beis­pielsweise scheuen die Personalchefs Probleme, was Lücken in den Lebensläufen oft ankündigen. Auch weisen die Bezügerinnen und Bezüger persönliche und fachliche Defizite aus. Diese Lücken im Arbeitsmarkt auszufüllen, gelingt umso besser, je grösser der Personalbedarf einer Branche und je offener die beruflichen Anforderungen sind. Im Moment erfüllen vor allem der Detailhandel und das Gesundheitswesen diese Anforderungen. «Uns fehlen Arbeitsplätze in den Wirtschaftsbereichen mit niedriger Qualifikation», erzählt Leuenberger. Die Digitalisierung der Arbeitsplätze, beispielsweise Selfscanning im Laden oder computerisierte Lagerbewirtschaftung, vernichten geeignete Stellen. Auch stünden die Sozialdienste oft in Konkurrenz mit anderen Stellen, die Arbeitsplätze für Klienten suchen, beispielsweise die Invalidenversicherung (IV).

«Hohe Erfolgsquote»
Peter Leuenberger kennt die Gründe, warum Leute vom Staat abhängig werden. Marcel Nef und Patrick Marti, Chefs und Gründer der Zürcher Firma The Psychology Consultants Group GmbH (PCG), setzen dort an. Die beiden Spezialisten stammen aus dem Detailhandel und wissen als frühere Personalentwickler und CEO, was es in dieser Branche braucht. Diese Kenntnisse nutzen sie heute, indem sie Klientinnen und Klienten der Sozialdienste zuerst einen Monat schulen und dann in zweimonatigen Praktiken bei diversen Ladenketten bereit für die Zukunft machen. «Fast 90 Prozent unserer Leute erhalten schliesslich einen Arbeitsvertrag», sagt Nef. Dass seine Firma diese Quote erreicht, könne nicht als Misstrauen der Sozialdienste und Arbeitsprogramm verstanden werden. «Wir wissen genau, was es an Verkaufslehre und Selbstführung braucht, wir schulen und coachen gezielt und intensiv». Ihre Leute hätten oft Lücken im Lebenslauf, was viele Personalchefs abschrecke. Eigentlich schade, denn Nef hat festgestellt, dass die Zugewiesenen hoch motiviert seien, weil sie wieder autonom werden wollen. Drei Vermittelte in einer Zürcher Filiale hätten die ersten Plätze beim Verkauf erzielt, führt er als Beispiel an.

Mehr Konkurrenz?
Im Kanton Bern stösst die Firma Psycons im Gegensatz zu anderen Kantonen auf institutionelle Schwierigkeiten. Leuenberger erklärt: «Der Kanton bestimmt regionale Träger, was Konkurrenz verhindert.» Alleinige Anbieter finde er nie gut, das System müsse durchlässiger werden, findet er. Als der Burgdorfer die Unterlagen der PCG erhielt, fand er nach anfänglicher Skepsis das vorgeschlagene Modell einen Versuch wert. «Auch weil wir in der Einkaufsmeile in Lyssach einige Partner der PCG vor der Türe haben.» Sieben Leute hat der Sozialdienst ausgewählt, sechs sind nun entweder im Praktikum oder noch in der Schulung. «Danach ziehen wir ein Fazit und schauen, wie es gelaufen ist», sagt Leuenberger. Die Kosten für den Versuch seien durch das Budget gedeckt.

«Lastenausgleich sinnvoll»
Das bernische System mit dem Lastenausgleich verhindert, dass die Stadt Burgdorf finanziell profitiert, falls der Versuch erfolgreich ist. «Es wäre sowieso ein kleiner Tropfen im grossen See.» Das System des Lastenausgleichs will Leuenberger dennoch nicht kritisieren, weil das Solidarprinzip fairer für die Gemeinden und damit die Klienten sei. Wenn die Gemeinden alles selber bezahlen müssten, bestünde die Gefahr einer Abschiebepolitik. Der Lastenausgleich basiert auf guter Arbeit in den Gemeinden. Ein Versuch des Kantons, dies mit einem Bonus-/Malus-System zu bewerten, scheiterte vor einigen Jahren. Während Zolli­kofen sich über die Auszeichnung und den Bonus freute, wehrten sich einige Gemeinden auf der anderen Seite der Rangliste. Schliesslich kam das Aus für den Versuch.  
Sollten die sechs Probanden tatsächlich den Absprung schaffen, so bleibt noch genug Arbeit für Leuenbergers Leute. Das Angebot der Qualifizierung, wie es PCG anbietet, sei nur ein Weg. Manchmal brauche es nur eine Tagesstruktur, um in einer ersten Phase soziale Fähigkeiten wie Pünktlichkeit zu lernen, manchmal sei eine Grundqualifikation gefragt.

Beat Waldmeier


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