Verzerrte Realität, Depressionen, Ängste

  14.09.2021 Aktuell, Burgdorf, Gesellschaft

Übermorgen Donnerstag findet der nächste Publikumsvortrag im Kurslokal des Spitals Emmental in Burgdorf statt: «Psychosen: Wenn die Realität verzerrt ist.» Gemäss Entscheid des Bundesrates besteht ab dieser Woche eine Zertifikatspflicht, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen also geimpft, getestet oder genesen sein. Zudem ist weiterhin eine Anmeldung erwünscht. Diese ist online oder telefonisch möglich: www.spital-emmental.ch/publikumsvortraege">www.spital-emmental.ch/publikumsvortraege beziehungsweise 034 421 18 52. Dabei sind der Name, die Anzahl der Teilnehmenden sowie der gewünschte Vortrag anzugeben. Kurzfristige Programmänderungen würden unter www.spital-emmental.ch publiziert.
Referent des rund 45-minütigen Publikumsvortrags von übermorgen Donnerstag, 16. September 2021, um 19.00 Uhr im Kurslokal des Spitals Emmental in Burgdorf ist Dr. med. Michael Strehlen, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Leitender Arzt Psychiatrie am Spital Emmental.

«D’REGION»: Wie kommen die an Psychosen leidenden Patienten zu Ihnen ins Spital Emmental – sind es ausschliesslich Zuweisungen von Hausärztinnen und Hausärzten?
Dr. Strehlen: Im Notfall und bei unserer Triagestelle können sich Betroffene, deren Angehörige, behandelnde Ärzt­innen und Ärzte aller Fachgebiete, ambulante Therapeutinnen und Therapeuten, Bezugs- oder Betreuungspersonen – zum Beispiel Spitex, Arbeitgeber –, Behörden und so weiter betreffend Anmeldungen und Zuweisungen melden.

«D’REGION»: Wer an einer Psychose erkrankt ist, verliert den Bezug zur Realität. Auffälligste Symptome sind Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Denkstörungen. Wie sieht es mit der Altersstruktur aus – sind oft schon Kinder und Jugendliche betroffen, und kann eine Psychose vererbt werden?
Dr. Strehlen: In seltenen Fällen sind auch schon Kinder betroffen, wobei mir dazu keine genaueren Angaben bekannt sind, da sich damit das eigene Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie beschäftigt. Häufig beginnen psychotische Erkrankungen bereits im Jugend­alter. Ihren Gipfel haben sie aber in der Regel zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, können aber natürlich auch noch später auftreten. Genetische Faktoren spielen bei der Entstehung von Psychosen zwar eine Rolle und können zusammen mit anderen Faktoren – beispielsweise Umwelteinflüsse – das Risiko für die Entstehung von Psychosen erhöhen, aber einzelne Gene, durch welche Psychosen direkt vererbt werden könnten, konnten bisher nicht gefunden werden.

«D’REGION»: Eine Psychose sollte möglichst schnell behandelt werden. Heisst das, dass eine Person, die an Depressionen, Angstzuständen oder Schlafstörungen leidet, unverzüglich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollte?
Dr. Strehlen: Die Symptome, die Sie beschreiben, sind sehr unspezifisch und könnten bei praktisch allen psychischen Leiden oder sogar auch bei gesunden Personen mit aussergewöhnlichen Belastungen auftreten. Aber bei diesen Symptomen sollte man sich eine Kontaktaufnahme zu einer Fachperson überlegen. Spätes­tens wenn noch Selbstmordgedanken dazukommen, ist Eile geboten.

«D’REGION»: Treten Psychosen eher plötzlich oder schleichend auf – und stellen Sie am Spital Emmental eine Zunahme oder Abnahme von Krankheitsbildern wie Schizophrenie fest?
Dr. Strehlen: Es gibt grundsätzlich beide Formen von Psychosen. Akute Psychosen können innerhalb weniger Stunden bis Tage auftreten und sind daher sehr eindrucksvoll, weil sich der Zustand der betroffenen Personen so rasch verändert. Chronische Psychosen können über Jahre hinweg schleichend entstehen. Wir stellen keine besondere Veränderung der Anzahl von Psychosen fest. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung kulturunabhängig unter Schizophrenie leidet. Es gibt zudem Untersuchungen, die zeigen, dass Psychosen bei rund drei Prozent der Bevölkerung auftreten. Diese Zahlen sind relativ stabil.

«D’REGION»: Menschen, die unter einer Psychose leiden, benehmen sich für Aussenstehende oft seltsam und zeigen wechselhafte Emotionen. Können Sie typische Beispiele nennen?
Dr. Strehlen: Ein typisches Beispiel wäre das Symptom des Stimmenhörens – also eine Wahrnehmung, welche die Betroffenen haben, aber die sonst niemand im Umfeld macht: Halluzination. So fallen Personen, die lebhaft mit den wahrgenommenen Stimmen diskutieren und dazu womöglich auch noch gestikulieren, im öffentlichen Raum oder im privaten Umfeld doch sehr auf. Der Wahn als falsche Überzeugung ist ein anderes Beispiel. Wenn ein unter einer Psychose leidender Mensch das Gefühl hat, dass sein Nachbar ihn durch das Einleiten von Gift ins Trinkwasser vergiften will, und dies überall erzählt: Vergiftungswahn.

«D’REGION»: Welches können Ursachen sein, die zur Entstehung von Psychosen führen?
Dr. Strehlen: Die genauen Ursachen, die zur Entstehung von Psychosen führen, sind noch immer nicht ganz geklärt. Man geht aber heute davon aus, dass verschiedene Faktoren zur Krankheitsentstehung beitragen, unter ihnen genetische Veranlagungen, veränderte Konzentration von Botenstoffen in bestimmten Regionen des Gehirns – vor allem Dopamin –, Stress, Umweltfaktoren, Konsum von Drogen, Hormonspiegel und so weiter.

«D’REGION»: Kommen Patienten, die unter einer Psychose leiden, allein oder mit Bezugspersonen zu Ihnen – und wie gehen Sie dann in der Regel nach eingehenden Gesprächen und Beurteilungen vor?
Dr. Strehlen: Patienten, die unter einer Psychose leiden, kommen häufig auf Initiative von Bezugspersonen und auch in deren Begleitung zu uns. Nach der Beurteilung der Situation wird dann eine Empfehlung zur weiteren Behandlung und zum weiteren Vorgehen abgegeben. Dabei suchen wir, wenn immer möglich, nach individuellen Lösungen, die für alle Beteiligten stimmen. Es kann von einer aufsuchenden Betreuung zu Hause bis zu einem stationären Aufenthalt Verschiedenes organisiert werden.

«D’REGION»: Wer unter einer Psychose leidet, merkt oft selber nicht, dass etwas nicht stimmt. Ist es für Sie deshalb schwierig, Betroffene von der Notwendigkeit einer Behandlung zu überzeugen – und wie gehen Sie vor?
Dr. Strehlen: Ja, das ist in vielen Fällen sehr schwierig und braucht viel Überzeugungsarbeit. Am wichtigsten ist es dabei, eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen und ein Vertrauensverhältnis entstehen zu lassen. Dafür sind oft viele Gespräche nötig. Es ist gut, wenn man die Bezugspersonen mit ins Boot holen kann.

«D’REGION»: Was kommt häufiger vor – dass an einer Psychose Leidende aggressiv werden, weil sie sich von anderen Personen bedroht, verfolgt oder manipuliert fühlen, oder dass sie sich abschirmen, sich isolieren?
Dr. Strehlen: Ich würde sagen, dass es wahrscheinlich mehr Personen gibt, die sich isolieren.

«D’REGION»: Wie sieht es mit der Verabreichung von Medikamenten und deren Nebenwirkungen aus?
Dr. Strehlen: Die Behandlung richtet sich in der Regel nach der Grunderkrankung – zum Beispiel Depression, Schizophrenie –, wobei im Idealfall eine Kombination aus psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung angewendet wird. Als spezifische Medikamente gegen psychotische Symptome werden sogenannte Neuroleptika – Antipsychotika – eingesetzt. Diese Medikamentengruppe umfasst verschiedene ältere und modernere Substanzen, die im Gehirn die Signal­übertragung von Botenstoffen – vorwiegend Dopamin – hemmen. Diese Medikamente machen nicht süchtig und können auch über längere Zeiträume eingenommen werden. Typische Nebenwirkungen können sein: Müdigkeit, Unruhe, Bewegungsstörungen, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme oder -abnahme. Zur Reduktion von Nebenwirkungen wird immer eine möglichst niedrige Dosis gewählt.

«D’REGION»: In Extremfällen können unter einer Psychose Leidende Dritte oder sich selber gefährden. Wann beginnt bei Ihnen die Alarmglocke zu läuten?
Dr. Strehlen: Die Alarmglocke beginnt bei Drittgefährdung zu läuten, wenn es Androhungen von Gewalt gibt oder konkrete Äusserungen respektive Vorbereitungshandlungen – beispielsweise Bereitstellung von Werkzeugen, Waffen – sowie bei Selbstgefährdung bei Äusserung von Suizidgedanken oder -plänen.

Hans Mathys


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