Entschleunigen im Mittelalter

  10.11.2021 Aktuell, Foto, Burgdorf, Kultur, Gesellschaft

Am Wochenende ist Nathalie Junker manchmal kaum wiederzuerkennen. Sie hüllt sich in edle Gewänder und auch ihr Name ist ein anderer. Als «Sophia von Rheinfelden» schlüpft sie – wortwörtlich – in die Schuhe der mittelalterlichen Zofe von Christiane von Keller, Gräfin zu Schleitheim, im bürgerlichen Leben Kerstin Hörisch aus Fraubrunnen. Die beiden Frauen sind Teil des Mittelaltervereins Bern, dessen über 100 Aktiv- und Passivmitglieder die Leidenschaft, das Mittelalter in der heutigen Zeit wieder aufleben zu lassen, teilen. Sie wollen das Mittelalter erleben – und auch für andere erlebbar machen. So ist der Mittelalterverein Bern oft an Veranstaltungen unterwegs wie Mittelaltermärkte, Schlösser, Projekte mit Schulen oder Museen und deckt dabei einen breiten Zeitraum vom Früh- bis Spätmittelalter ab. Nathalie Junker und Kerstin Hörisch haben hauptsächlich das 15. Jahrhundert als ihre Stammzeit gewählt. «Aber auch wir beide sind nicht nur im 15. Jahrhundert unterwegs. Einige Mitglieder haben auch mehrere Zeiten, je nach Anlass, Lust und Laune», sagt Nathalie Junker.

Eine Zofe vor Gericht
Am liebsten ist der Mittelalterverein am Wochenende im Zeltlager unterwegs – zumindest vor der Coronapandemie. «Das ist etwa wie ein historisches Pfadi­lager», erzählt die Burgdorferin Nathalie Junker, welche dem Mittelalterverein Bern vor drei Jahren beigetreten ist. «Von Kindern und Jugendlichen bis hin zu Pensionierten sind im Verein alle anzutrefffen», so Junker. Beim Mittelalterverein Bern finden alle etwas Passendes: Der Verein ist in Untergruppen aufgeteilt, welche sich auf verschiedene Tätigkeiten spezialisieren. Zu den Aktivitäten des Mittelaltervereins Bern gehören unter anderem Schaukämpfe, Tanzvorführungen, mittelalterliche Küche, Feuershows, Theaterstücke und Rollenspiele sowie die Kinderanimationsgruppe.
Teilweise arbeitet der Mittelalterverein Bern auch mit Museen zusammen, um Geschichte auf eine interaktive Art und Weise zu übermitteln. Im Rahmen des. 6. Schweizer Schlössertags vom 3. Oktober 2021 warteten Nathalie Junker und der Mittelalterverein Bern im Schloss Spiez auf. Beim Thema «Frauen in den Schlössern» war natürlich auch Zofe Sophia von Rheinfelden involviert. Wenn auch nicht unbedingt im positiven Sinne, denn die junge Frau fand sich vor Gericht wieder. Im Rahmen einer mittelalterlichen Gerichtsverhandlung wurde die Zofe von einem Ritter angeklagt, ihr Bein in der Stadt entblösst zu haben. Das harte Urteil der Verhandlung: Peitschenhiebe. Zum Glück sprang die Gräfin ein und kaufte die Zofe frei. «Wir arbeiten oft mit Gerichtsverhandlungen, da sie viel über eine Gesellschaft aussagen», erklärt Nathalie Junker der Zeitung «D’REGION». «Teilweise finden sie nach historischen Vorbildern statt, andere sind Fiktion mit einem realistischen Anspruch. Wir wollen Figuren darstellen, welche es so gegeben haben könnte.» Zum Rollenspiel gezwungen wird im Mittelalterverein Bern aber niemand. Wer will, kann auch einfach sein Handwerk oder seine Tätigkeit ausüben, ohne in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Abschalten im Zeltlager
2012 besuchte Nathalie Junker zum ersten Mal eine solche mittelalterliche Veranstaltung: Es war Liebe auf den ersten Blick. «Mit der Zeit habe ich meine Bekleidung immer ernster genommen. Ich habe mir überlegt, wie man etwas am besten darstellen kann und mich immer historisch korrekter angezogen. Damals habe ich mich besonders auf die Wikingerdarstellung spezialisiert», sagt Junker. Aus Zeitgründen habe sie sich damals noch keinem Verein angeschlossen, denn ihr war klar: «Wenn ich einem Verein beitreten will, dann auch richtig.»
2018 trat sie dann dem Mittelalterverein Bern bei. «So ein Verein gibt einem einen sehr grossen Mehrwert», erzählt die 31-Jährige begeistert. «Es ist etwas komplett anderes, eine Mittelalterveranstaltung als Tagesgast zu besuchen oder mit einer Gruppe auch dort zu übernachten. Dann kann man besonders gut vom Alltag abschalten.» Wenn Nathalie Junker mehrere Tage in die Haut von Sophia von Rheinfelden schlüpft, taucht sie richtig in die andere Welt ein: «Nach einem halben Tag habe ich kein Zeitgefühl mehr. Man taucht wirklich in eine andere Welt ein. Das wirkt auch sehr entschleunigend.»
Das Hobby sei auch ohne Verein machbar, wie Junker es auch selbst jahrelang erlebt hat, doch mit dem Verein sei es «schöner und intensiver». Die Coronapandemie machte aber auch dieser Beschäftigung in den vergangenen zwei Jahren einen Strich durch die Rechnung. «Wenn ein Hobby  von Grossveranstaltungen abhängt, schränkt dies das Vereinsleben natürlich stark ein.»

Freiheit der Darstellung
Wie kommt man überhaupt dazu, eine Zofe zu spielen? Würden nicht alle lieber Ritter, Könige und Edeldamen sein? «Wir haben definitiv Personalmangel im Verein», lacht Junker. «Aber grundsätzlich darf man beim Mittelalterverein Bern seine Rolle selbst wählen.» Dass sie selbst zur Zofe geworden ist, war eher Zufall: «Kerstin Hörisch hat ebenfalls Freude am Rollenspiel und so hat mich Gräfin Christiane von Keller kurzerhand als Zofe ‹adoptiert›.» Doch ist die Bandbreite der mittelalterlichen Berufe und Tätigkeiten im Verein gross. Ein Vereinsmitglied stellt etwa einen mittelalterlichen Bettler dar, andere sind Handwerksleute oder kümmern sich um die Küche. Sophia von Rheinfelden ist – wie es sich für eine Zofe aus einem Adelshaus gehört – in der Tanzgruppe aktiv.

Etwas Komfort muss sein
Welchen Platz haben moderne Hilfsmittel und Technik, wenn man mehrere Tage an einer Veranstaltung verbringt? Gemäss Junker lautet die Devise schlicht: «Es darf nicht sichtbar sein.» Wenn Besucherinnen und Besucher anwesend sind, gilt beispielsweise ein  generelles Handyverbot. Falls gerade niemand da ist, darf man das Handy natürlich für einige Erinnerungsfotos zücken. Damit das Publikum das Zeltlager entdecken kann, ist es offen gestaltet. So gilt auch dort das «Unsichtbarkeitsprinzip». Sonnenbrillen, PET-­Flaschen, Schlafsäcke – alles muss versteckt sein. Doch wie sieht es mit modernem Komfort aus? «Fürs Kochen und für die Beleuchtung brauchen wir null Strom, aber über ein modernes WC und besonders eine Dusche bin ich natürlich immer froh», schmunzelt Junker. Alles in allem sei es ein «vielseitiges, interessantes Hobby, das einem grosse Freude bereitet», so Junker. Am jeweils ersten Mittwoch im Monat findet in Seftigen ein Vereinsstammtisch statt, an welchem auch interessierte Nichtmitglieder willkommen sind.

David Kocher

 

Der Mittelalterverein Bern mit eigenem Markt
Der Mittelalterverein Bern wurde 2011 gegründet und hat seinen Vereinssitz in Kiesen, wo der Verein regelmässig einen eigenen Mittelaltermarkt organisiert. Der 5. Mittelaltermarkt Kiesen findet voraussichtlich vom 27. und 28. August 2022 statt. Weitere Informationen zum Markt unter www.mittelaltermarkt-kiesen.ch.
Informationen zum Mittelalterverein Bern unter www.mittelalterverein-bern.ch.
Eine Übersicht über mittelalterliche Veranstaltungen in der Schweiz gibt es unter www.mirimor.ch. red


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