Chancengerechtigkeit in der Bildung – Wie gelingt dies?
22.03.2022 Aktuell, Politik, Foto, Burgdorf, Gesellschaft, Bildung / SchuleDas Impulsreferat hielt Dr. Simone Suter aus gesundheitlichen Gründen über Video. Sie unterrichtet als Dozentin für Sozialwissenschaften am Institut Primarstufe, PHBern. Ihre Hauptthemen sind Kindheiten, Familie, soziale Ungleichheiten und differenzsensible und diskriminierungskritische Bildung.
Bildungsprozesse in Familie, Freizeit und Schule
Ist die Chancengleichheit eine Illusion? Auf alle Fälle drängte sich dieses Thema seit dem Lockdown deutlicher in den Vordergrund. «Niemand darf diskriminiert werden wegen seiner Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung», steht in der Bundesverfassung geschrieben. Die Volksschule fördert diese Chancengleichheit und geht mit der Vielfalt der Kinder und Jugendlichen konstruktiv um. Und doch zeigen Statistiken, dass in der Schweiz die Bildungswege und der Erwerb von Abschlüssen anhand sozioökonomischer Ressourcen und des Bildungsniveaus des Elternhauses vorhergesagt werden können. Daraus lässt sich schliessen, dass die Bildungsförderung nur dann erfolgreich ist, wenn sie über die Schule hinausführt, eine vielseitige und sinnvolle Freizeitgestaltung und die Unterstützung durch die Familie miteinschliesst.
Wichtige Impulse durch frühkindliche Bildung
Nationalrat Matthias Aebischer setzt sich politisch vehement für die frühkindliche Bildung ein. Hier solle nicht gegeizt werden, denn jeder eingesetzte Franken erspare Kosten in der Zukunft. Viele Eltern seien aus finanziellen Gründen gezwungen, 100 Prozent zu arbeiten. Da bleibe kaum Zeit für Spiel und Spass mit den Kindern. Doch auch diese haben den Anspruch auf Freizeitgestaltung. Gabriela Heimgartner, Lerncoachin und Co-Präsidentin Schule und Elternhaus Burgdorf, sprach über ihre Erfahrungen. Einen Schritt auf diese Menschen zuzugehen und den Dialog zu suchen, das sei wertvoll, um Vertrauen zu erlangen. Sie bietet zusammen mit anderen Frauen kostenloses Lerntraining für Kinder an. So wollen sie Chancengleichheit und gleichzeitig das Selbstvertrauen der Kinder fördern.
Samira Cabdulle, Vorstandsmitglied Allianz Chance+, erzählte dazu über Erfahrungen aus ihrer Kindheit. Als Migrationskind hätten ihre Eltern sie stets motiviert für die Schule, doch sie konnten ihr nicht helfen bei den Hausaufgaben. Die Behörden hätten eine Frau zu ihnen nach Hause geschickt, um mit ihnen zu spielen, was ihr Spass machte. Später wollte sie die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium machen, doch sie scheiterte. Als sie von ChagALL, einem Unterstützungsunterricht für jugendliche Migranten/-innen, hörte, meldete sie sich an und hatte Glück. Sie konnte den kostenlosen Förderunterricht in Anspruch nehmen und steht nun vor dem Abschluss als Umweltingenieurin an der ETH in Zürich. Der Anstoss von aussen war wichtig, so Cabdulle.
Diese «Einmischung» von aussen verlange ein feinfühliges Vorgehen, damit solche Situationen nicht als übergriffig empfunden würden, meinte Cabdulle. Vielleicht sei jemand aus derselben Kultur besser geeignet oder eine Quartierarbeitende, welche den Menschen auch im Alltag begegne.
«Bildung und Betreuung gehören unter dasselbe Dach.» So äusserte sich Katrin Kurtogullari, Leiterin der Volksschule Burgdorf, zum Thema. Gemeinsam mit Gemeinderat Christoph Grimm, der ein Grusswort der Stadt Burgdorf an die Gäste richtete, setzt sie sich für eine Ganztagesschule ein. Dies wäre ein weiterer Schritt in Richtung Chancengleichheit. Kurtogullari unterstützt die Tagesschule und motiviert Eltern, Angebote der Stadt zur frühkindlichen Bildung wie Spielgruppen, Kitas, Muki- und Elterntreffs zu nutzen. Zusammen mit ausserschulischen Angeboten (z. B. Vereine) bilde das ganze System ein breites Fundament.
Matthias Aebischer rühmte die Integration durch Vereine. Beispielsweise in einem Fussballclub hätten alle Mitglieder die gleichen Interessen und schulische Leistungen oder die Sprache seien nebensächlich. Das wirke äusserst integrativ. Die Idee der Durchmischung unterschiedlicher Kulturen steht auch für Cabdulle im Vordergrund. Sie geht da noch weiter und möchte die Kinder verschiedener Quartiere in den Schulen mischen. «Es braucht alle», meinte Kurtogullari, «und darum ist gegenseitige Stützung im Alltag wichtig.» Es gäbe viele kleine Lösungen und jeder solle sich in seinem System engagieren und sich vernetzen, äusserte sich Heimgartner in ihrem Schlusswort und Aebischer ergänzte: «Chancengleichheit gibt’s nicht, aber möglichst viel Chancengerechtigkeit.»
Nach einem facettenreichen Vortrag und angeregtem Podiumsgespräch stellten Zuhörer/-innen Fragen und ergänzten die Fortbildung mit Anregungen und Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag. Moderiert wurde der Anlass durch Roman Sommer, Präsident des Berufsverbands diplomierter Lerntherapeuten/-innen SVLT.
Die Motion der SP-Fraktion «Pandemie-Bewältigung an den städtischen Schulen» wird an der Stadtratssitzung vom 28. März 2022 dieses Thema ebenfalls behandeln.
Helen Käser