«Viel weibliches Potenzial liegt auf Gemeindeebene brach»
14.06.2022 Aktuell, Foto, RegionAm vergangenen Samstag fand auf Einladung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP) im Gymnasium Neufeld in Bern das erste Treffen der Stadt- und Gemeindepräsidentinnen der Schweiz statt. Rund 160 Politikerinnen aus allen Landesteilen reisten in die Bundeshauptstadt, um am Anlass teilzunehmen – unter ihnen befand sich auch Béatrice Kaufmann (SVP), Gemeindepräsidentin von Zielebach.
Das Treffen hätte ursprünglich bereits im Jahr 2020 am internationalen Frauentag stattfinden sollen – allerdings durchkreuzte damals die Coronapandemie das Vorhaben. «Wir Frauen geben aber bekanntlich nicht so schnell auf und bleiben hartnäckig», lachte Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei der Begrüssung. «Umso überwältigter bin ich vom heutigen Ansturm der zahlreichen Frauen, welche in Gemeinden ebenso wie in Städten Verantwortung übernehmen, sich um die Anliegen der Bevölkerung kümmern, tagtäglich schwierige Entscheide treffen und die Konsequenzen tragen.»
«Viel weibliches Potenzial liegt brach»
In der Schweiz existieren derzeit 2145 Städte und Einwohnergemeinden. Gemäss einer Erhebung aus dem Jahr 2020 steht in rund 350 Gemeinden eine Frau an der Spitze – dies entspricht einem Anteil von cirka 16 Prozent. Im Verwaltungskreis Emmental, der 39 Gemeinden umfasst, fällt der Prozentsatz mit rund 13% noch geringer aus. Lediglich in fünf Gemeinden wird die Exekutive von einer Frau geleitet: Als Gemeindepräsidentinnen amtieren Patrizia Lambroia in Rüdtligen-Alchenflüh, Beatrice Rickli in Rumendingen, Kathrin Scheidegger in Trachselwald, Sandra Sommer in Wynigen und Béatrice Kaufmann in Zielebach. Im Einzugsgebiet der Zeitung «D’REGION» im Verwaltungskreis Bern-Mittelland befindet sich das Präsidium der Exekutive in Jegenstorf, mit Gemeindepräsidentin Sandra Lyoth, und in Bäriswil, mit Gemeindepräsidentin Elisabeth Allemann Theilkäs, in Frauenhand. Während des Anlasses warf Simonetta Sommaruga die Frage auf, wie die Schweiz wohl aussehen würde, wenn nicht lediglich 16 Prozent, sondern 84 Prozent der Gemeinden und Städte eine Chefin an der Spitze hätten? «In den Gemeinden liegt viel weibliches Potenzial brach», betonte die Bundesrätin. «Dieses sollten wir ausschöpfen – für unser Land, für unsere Zukunft und für die gesamte Bevölkerung. Die Gemeinde- und Stadtpräsidentinnen erfüllen eine wichtige Vorbildfunktion. Sie leben vor, wie Frauen die Politik erfolgreich mitgestalten und Einfluss ausüben.»
In einem Podiumsgespräch, moderiert von Sonja Hasler, diskutierten Simonetta Sommaruga und die vier Gemeindepräsidentinnen Jolanda Brunner-Zwiebel aus Spiez (BE), Virginie Gaspoz aus Evolène (VS), Verena Hochstrasser aus Muzzano (TI) und Maria Pappa aus St. Gallen (SG) über ihre Erfahrungen und die mit dem Exekutivamt verbundenen Herausforderungen. Sie unterhielten sich über Freuden und Leiden, die mit der Verantwortung einhergehen, über Gestaltungsmöglichkeiten, Herausforderungen und die Auswirkungen der Präsidiumsübernahme auf das Privatleben. Aufgeworfen wurde auch die Frage, ob Frauen eine andere Auffassung von den Führungsaufgaben haben als Männer und sensibler auf soziale Probleme reagieren. «Führen bedeutet für mich auch Zuhören», erklärte die St. Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa. Virginie Gaspoz fügte an: «Ich nehme mir Zeit, um Entscheidungen zu treffen, weil ich alle Meinungen anhören will. Dies interpretiere ich aber nicht als Schwäche, sondern als Stärke.» Die Bevölkerung mitzunehmen, sie in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen, in der Diskussion offen zu sein, sich eine eigene Meinung bilden und nicht einfach einen vorgefassten Standpunkt zu vertreten sowie die Etablierung von klaren Strukturen erachtet Simonetta Sommaruga als Schlüsselqualifikationen für ein Exekutivamt. «Dabei ist es wichtig, den eigenen inneren Kompass niemals aus den Augen zu verlieren.»
Beim anschliessenden Apéro tauschten die weiblichen Führungskräfte ihr Wissen und ihre Erfahrungen miteinander aus und knüpften wertvolle Kontakte untereinander. Die Zeitung «D’REGION» nutzte die Gelegenheit, um sich mit Béatrice Kaufmann zu unterhalten.
Im Gespräch mit Béatrice Kaufmann, Gemeindepräsidentin von Zielebach
Die Zielebacher Gemeindepräsidentin schätzt an ihrem Amt, das sie seit 2020 ausübt, insbesondere die zahlreichen Begegnungen mit den Einwohnerinnen und Einwohnern der Gemeinde sowie das Vertrauen, das ihr von der Bevölkerung entgegengebracht wird. «Die Leitung der Exekutive lässt sich in unserem 333-Seelen-Dorf, in dem alle einander kennen, natürlich kaum mit dem Präsidiumsamt in einer Agglomerationsgemeinde oder Stadt vergleichen. Sämtliche Anliegen lassen sich bei uns problemlos im persönlichen Gespräch diskutieren. Mir ist es wichtig, stets ein offenes Ohr für alle Bedürfnisse und alle Beteiligten zu haben, Anliegen ernst zu nehmen und auch bei Meinungsverschiedenheiten einen respektvollen Umgang zu pflegen.»
«In der Dorfpolitik spielt das Geschlecht keine Rolle»
Als Unternehmerin ist sich Kaufmann gewohnt, Verantwortung zu übernehmen – auch in der Politik scheut sie keineswegs davor zurück: «Ich stehe jeweils voll und ganz hinter den Entscheiden, welche wir im Gemeinderat treffen.» In der Dorfpolitik in Zielebach spielt das Geschlecht keine Rolle, versichert sie. Im fünfköpfigen Gemeinderat der ländlichen Gemeinde bilden die Frauen gar die Mehrheit. «Ich wünsche mir aber schon, dass in der Schweiz mehr Frauen die Funktion als Gemeinde- beziehungsweise Stadtpräsidentin innehätten – der Anteil von 16 Prozent erscheint mir doch sehr gering.»
In der Gemeinde Zielebach stehen bald wichtige Entscheide an. «Wir müssen uns neu orientieren und insbesondere die Zusammenarbeit mit den umliegenden Gemeinden prüfen – beispielsweise in Hinblick auf das Schulwesen. Dabei sollen alle Optionen erwogen und analysiert werden. Wichtig ist es mir, die Einwohner/innen in die Diskussion miteinzubeziehen und ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren. Deshalb wird der Gemeinderat am 27. Juni 2022 eine Sitzung einberufen, zu der die ganze Bevölkerung eingeladen ist. Ich bin überzeugt, dass Zielebach den richtigen Weg finden wird, um die grossen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Wir stehen füreinander ein – der Zusammenhalt im Dorf ist gross.»
In Stadt- und Gemeindepräsidien wird – unabhängig, welches Geschlecht an der Spitze steht – stets wertvolle Arbeit für die Bevölkerung geleistet. «Gerade in kleinen Dörfern ist es wichtig, dass sich Personen für die politische Arbeit zur Verfügung stellen und dadurch mithelfen, die Eigenständigkeit der Gemeinde zu bewahren. Im Kontext des ersten nationalen Treffens der Gemeinde- und Stadtpräsidentinnen ermuntere ich alle Frauen, sich im politischen Geschehen ihrer Gemeinde einzubringen», hält Béatrice Kaufmann fest.
Markus Hofer