Das Projekt «Emmentalwärts» spurt auf die Zielgerade ein
14.06.2022 Aktuell, Politik, Foto, RegionAm vergangenen Donnerstag stand die Verkehrssanierung Burgdorf–Oberburg–Hasle auf der Traktandenliste des Grossen Rats des Kantons Bern. Nach einer längeren Debatte genehmigte die bürgerliche Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand von Links-Grün mit 86 zu 62 Stimmen bei zwei Enthaltungen den Verpflichtungskredit von knapp 314 Millionen Franken für das Bauvorhaben. Damit ist die Finanzierung gesichert. Das Gross-
projekt «Emmentalwärts» hat eine weitere entscheidende Hürde überwunden und befindet sich auf der Zielgeraden. Allerdings wird das letzte Wort voraussichtlich bei der Stimmbevölkerung des Kantons liegen. Die Grünen kündigten bereits an, das Referendum zu ergreifen.
Unbefriedigende Verkehrssituation
Täglich durchqueren heute rund 20 000 Fahrzeuge Burgdorf, Oberburg und Hasle. Insbesondere während der Stoss-
zeiten ist wahrlich eine Engelsgeduld erforderlich. Der Verkehr staut sich immer wieder an den neuralgischen Stellen, sodass an ein flüssiges Vorankommen nicht zu denken ist. Busse können ihre Fahrpläne nur selten einhalten. Die Sicherheitssituation für Kinder und Jugendliche ist prekär. Die Anwohnerinnen und Anwohner leiden unter der Lärm- und Luftbelastung. Die unbefriedigende Verkehrssituation hemmt die Wirtschaftsentwicklung und benachteiligt das Emmental gegenüber anderen Regionen. In der Diskussion im Grossen Rat anerkannten sämtliche Parteien den dringenden Handlungsbedarf. Ob das Projekt «Emmentalwärts» aber den richtigen Ansatz zur Lösung der Verkehrsproblematik darstellt, darüber schieden sich die Geister.
Die Eckpunkte der Vorlage
Die Vorlage sieht in der Stadt Burgdorf Unterführungen für die beiden Bahnübergänge Spital und Buchmatt vor. Mit verschiedenen Massnahmen soll der Verkehr in der Zähringerstadt und im Lyssach-Schachen auch in Spitzenzeiten verflüssigt sowie die fahrplangerechte Abwicklung des öffentlichen Verkehrs gewährleistet werden. In Oberburg ist eine Umfahrung geplant. Die Neubau-
strecke umgeht den Ortskern vom Norden her mittels eines bergmännisch erstellten Tunnels und mündet beim Anschlussknoten Oberburg Süd in die bestehende Kantonsstrasse. Auch in Hasle bei Burgdorf soll eine Umfahrung die Ortsdurchfahrt vom Pendlerverkehr entlasten. Die Neubaustrecke verläuft westlich der BLS-Bahnlinie Burgdorf–Thun, unterquert diese in der Unterführung Eichholz und führt vor der Verzweigung Riefershäusern in die Kantonsstrasse. Das Projekt umfasst zudem zahlreiche weitere Massnahmen am bestehenden Strassennetz.
Kein Menü à la carte
Grossrat Jürg Rothenbühler, die Mitte, Sprecher der Mehrheit der Bau-, Energie-, Verkehrs- und Raumplanungskommission (BaK), lässt in seiner Eröffnungsrede die lange Geschichte des Projekts Revue passieren. Er zeigt sich überzeugt, dass die Sanierung den Wirtschaftsstandort Emmental aufwertet und die Region stärkt. Die vorliegende Lösung sei aus mehreren Mitwirkungen entstanden. Rothenbühler betont, dass «Emmentalwärts» kein Menü à la carte sei: Alle geplanten Massnahmen sind aufeinander abgestimmt und zwingend erforderlich, um die anvisierte Entlas-
tung zu erreichen. Weiter weist er darauf hin, dass auch der öffentliche Verkehr sowie der Langsamverkehr profitieren. Die finanzielle Belastung erachtet er als tragbar. Die voraussichtlichen Gesamtkosten belaufen sich auf 424 Millionen Franken – 62 Millionen für den Abschnitt Burgdorf / Lyssach, 278 Millionen für den Abschnitt Oberburg und 84 Millionen in Hasle. Der Kanton reservierte 2015 aus dem Fonds zur Deckung der Investitionsspitzen 212 Millionen Franken für das Projekt. 92 Millionen steuert der Bund bei. Die restlichen 120 Millionen muss der Kanton aus dem regulären Budget aufbringen: «Da sich die Umsetzung und damit die Finanzierung über zehn Jahre hinzieht, können wir dies stemmen.»
Die BaK-Minderheit spricht sich für eine Etappierung aus
Eine Minderheit der BaK beantragt, die Verkehrssanierung «Emmentalwärts» an den Regierungsrat zurückzuweisen und den Tunnel in Oberburg und die Umfahrung in Hasle vorerst zurückzustellen. Sprecherin Kornelia Hässig Vinzens (SP) versichert, den Leidensdruck der Bevölkerung keineswegs zu negieren, wirft aber die Frage auf, ob Kosten von 424 Millionen Franken für einen Zeitgewinn von maximal neun Minuten von Burgdorf bis Hasle wirklich gerechtfertigt sind, und stellt das Kosten-Nutzenverhältnis der baulichen Vorhaben in Oberburg und Hasle infrage. Zudem generiere «Emmentalwärts» langfristig Mehrverkehr und sei kaum mit den Klimazielen vereinbar. Als wirksamste Massnahmen erachtet sie die Unterführungen der beiden Bahnübergänge in Burgdorf. Sie plädiert deshalb für eine etappenweise Umsetzung des Projekts.
Voten der Befürworter ...
Die bürgerlichen Parteien stellten sich klar hinter das Gesamtprojekt «Emmentalwärts». Bernhard Riem, Fraktionssprecher Mitte, hebt den Nutzen für den Autoverkehr, den öffentlichen Verkehr, die Ambulanzfahrzeuge, den Veloverkehr sowie die Fussgänger/innen hervor. Den Gegnern wirft er vor, die Vorlage zu einer Grundsatzfrage für oder gegen das Auto hochzustilisieren. Dabei habe sich der Projektschwerpunkt im Laufe der Jahre zugunsten des Langsamverkehrs und des öffentlichen Verkehrs verlagert: «Wer denkt, mit dem Fundamentalkampf gegen das Auto für die Umwelt etwas Gutes zu tun, irrt sich. Wie soll die Bevölkerung für griffigere Klimamassnahmen gewonnen werden, wenn ihr anständige Verkehrs- und Wohnverhältnisse verwehrt bleiben?»
Grossrätin Sandra Hess erklärt, die FDP-Fraktion sei voll und ganz von der Vorlage überzeugt. Wird das Projekt zurückgewiesen, rückt die ersehnte Verkehrsentlastung in weite Ferne. «Nach einem 50-jährigen Lösungsfindungsprozess liegt nun endlich ein wirkungsvolles Paket vor, das für alle Verkehrsteilnehmenden einen Nutzen bringt. Es verbessert die Lebensqualität, schafft neue Gestaltungsmöglichkeiten, eröffnet Perspektiven, bringt für das lokale Gewerbe Planungssicherheit und stärkt das Emmental als Wohn-, Freizeit-, Tourismus- und Arbeitsstandort.»
Ernst Tanner, Fraktion EDU, zeigt sich überzeugt, dass das Bauvorhaben die richtigen Weichen für die Zukunft des Emmentals stellt.
Namens der SVP-Fraktion betont Alfred Bärtschi, dass nicht nur Burgdorf, Oberburg und Hasle von der Verkehrssanierung profitieren, sondern auch die umliegenden Gemeinden und die gesamte Region. Die Eingriffe in die Natur seien auf ein notwendiges Minimum beschränkt, der Langsamverkehr werde konsequent gefördert. Er hält fest: «Der Tunnel in Oberburg und die Umfahrung in Hasle sind notwendig für eine prosperierende Wirtschaft.»
… und die Argumente der Gegenseite
Tabea Bossard-Jenni nennt drei Gründe, die aus Sicht der EVP gegen das Projekt sprechen: «Erstens bestehen ökologische Bedenken gegen den Tunnel in Oberburg, der in den Grundwasserstrom gebaut wird und die Trinkwasserversorgung der Stadt Burgdorf gefährdet. Zweitens erachten wir das Projekt angesichts der massiven Kosten in finanzieller Hinsicht als untragbar. Drittens führen die Umfahrungen zu einer Zunahme des Verkehrs.» Die Partei unterstützt deshalb die Rückweisungsanträge der BaK-Minderheit.
Jan Remund, Sprecher der Grünen-Fraktion, führt ebenfalls Klimaschutzgründe, die hohen Kosten und verkehrstechnische Fehlüberlegungen für die Ablehnung des Projekts an. «Um die Klimaschutzziele zu erreichen, muss der Verkehr konsequent eingedämmt und der CO2-Ausstoss reduziert werden. Das Projekt ‹Emmentalwärts› trägt diesen Forderungen ungenügend Rechnung.»
Die Mehrheit der SP-Juso-Fraktion wehrt sich ebenfalls gegen den Ausbau der Kapazitäten für den Autoverkehr. «Noch mehr Autos bedeuten mehr Lärm, mehr Abgase und eine höhere CO2-Belastung. Das Projekt ist keineswegs nachhaltig», hält Andrea Rüfenacht fest. «Am Teilstück Burgdorf zeigt sich, dass eine vernünftige Lösung ohne Umfahrung möglich ist.»
Casimir von Arx führt neben ökologischen Bedenken vor allem finanzpolitische Gründe für die Skepsis der glp-Fraktion an: «Unsere Kritik basiert auf einer grünen und zugleich liberalen Perspektive.»
Die Grünen ergreifen das Referendum
Nach dem Ratsbeschluss kündigten die Grünen in einer Medienmitteilung an, das Referendum zu ergreifen. Innerhalb von drei Monaten müssen dafür 10 000 Unterschriften gesammelt werden. Grossrätin Anna de Quervain, die in Burgdorf aufgewachsen ist und nun in Bern lebt, erklärt gegenüber der Zeitung «D’REGION»: «Wir sind überzeugt, dass es sinnvoll ist, zunächst die Massnahmen auf den bestehenden Strassen umzusetzen – wie von der Minderheit der BaK vorgeschlagen. Die Planungsphase für das gigantische Umfahrungsprojekt begann zu einer Zeit, als man punkto Klimawandel und Verkehrszahlen noch von anderen Entwicklungen ausging. Anpassungen sind unumgänglich. Zudem finde ich es legitim, wenn bei einer Investition in dieser Grössenordnung die Bevölkerung darüber abstimmen kann.»
Reaktionen aus Oberburg, Hasle und Burgdorf zum Grossratsentscheid
Auf der Besuchertribüne verfolgte Werner Kobel, SVP, Gemeinderatspräsident von Oberburg, die Debatte im Grossen Rat aufmerksam mit. Gegenüber der Zeitung «D’REGION» zeigt er sich erleichtert über die Annahme des Verpflichtungskredits. «Ich bin mir aber bewusst, dass wir noch nicht am Ziel sind. Noch sind Einsprachen gegen das Projekt hängig, welche zu Verzögerungen führen können und deshalb möglichst rasch zu bereinigen sind. Kommt es zu einer Volksabstimmung, wird sich die Gemeinde Oberburg im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Realisierung der Verkehrssanierung einsetzen. Wichtig ist, dass weiterhin die ganze Region zusammensteht. Mit dem geplanten Aus- und Umbau der BLS-Werkstätte in Oberburg wird die zügige Umsetzung des Projekts ‹Emmentalwärts› noch wichtiger: Diese bringt mehr Schienenverkehr mit sich, wodurch Staus aufgrund geschlossener Barrieren weiter zunehmen.»
Auch Raymond Weber, EVP, Gemeindepräsident von Hasle bei Burgdorf, freut sich über den Entscheid des Kantonsparlaments. «Ich erwartete allerdings eine deutlichere Zustimmung und bin enttäuscht, dass selbst Grossräte aus dem Emmental das Projekt ablehnen. Als sehr befremdend empfand ich, dass meine Partei, die EVP, den Rückweisungsantrag trotz der unhaltbaren Verkehrssituation unterstützte.» Bei einer allfälligen Volksabstimmung hofft Raymond Weber, dass sich die Bevölkerung im Kanton solidarisch mit dem Emmental zeigt.
Der Burgdorfer Stadtpräsident und Grossrat Stefan Berger ist ebenfalls zufrieden mit dem Parlamentsentscheid: «Es freut mich, dass der Rat die Mittel für die Verkehrsentlastung von Oberburg und Hasle sowie die Verflüssigung des Verkehrs mit der Aufhebung der beiden Bahnübergänge in Burgdorf sowie der Bevorzugung des öV wie auch Verbesserungen für den Veloverkehr bewilligt hat.» Er hält fest: «Das Projekt muss als Ganzes umgesetzt werden. Eine Aufteilung verlagert die Probleme nur nach Hasle und Oberburg und ist aus regionalpolitischer Sicht nicht sinnvoll.» Empfand Berger die Diskussion im Rat als schwierig, da die Mehrheit der SP dem Gesamtsanierungsprojekt ablehnend gegenübersteht? «Meine Haltung als Vertreter der Region wie auch als Stadtpräsident zu diesem Projekt war immer bekannt und wurde innerhalb der SP-Fraktion so auch akzeptiert», lautet seine Antwort. «Die Diskussionen konnten offen und mit dem nötigen Respekt gegenüber der jeweils anderen Meinung geführt werden.» Die Bedrohung einer potenziellen Verunreinigung des Grundwassers und einer Gefährdung der Trinkwasserversorgung in Burgdorf durch den Tunnelbau stuft er als unrealistisch ein: «Bei der Beurteilung möglicher Gefahren für das Grundwasser waren Experten des Kantons und des Bundesamts für Umwelt involviert. Diese haben die entsprechenden Risikobeurteilungen durchgeführt und das Projekt in dieser Form bewilligt.» Die Bauarbeiten für «Emmentalwärts» beginnen frühestens 2025.
Markus Hofer