Die Tradition des Strickens bewahren
10.10.2023 Aktuell, Foto, Kultur, Gesellschaft«Das Stricken ist meine grosse Leidenschaft», macht Andrea Bielser gleich zu Beginn des Gesprächs klar. Schon vor dem fünften Lebensjahr habe sie das Stricken von ihrer Grossmutter erlernt. Seither begleitet sie der Umgang mit Nadel und Faden durch ihr Leben. Gegen Ende der Schulpflicht hegt Andrea Bielser den Wunsch, Handarbeitslehrerin zu werden. Es kommt jedoch anders, sie schlägt ihre berufliche Laufbahn in der Buchhaltung ein. «Das Exakte und ein gewisser Perfektionismus verbindet, jedoch meinen ursprünglichen Beruf und das Stricken. Schliesslich muss es in beiden Fällen am Ende ‹aufgehen›», lacht die 52-Jährige.
Die Suche nach geeigneten Mustern und Modellen
Andrea Bielser hat schon die unterschiedlichsten Dinge gestrickt und angefertigt – beispielsweise sogenannte Reborn-Babys, also lebensechte Puppen. Diese kamen schon bei der TV-Sendung «Tatort» zum Einsatz. Aktuell ist sie jedoch mit der Fertigung von Trachtengärnli (Dreieckstuch) beschäftigt. Der Bezug zu Trachten gründet ebenfalls in ihrer Kindheit: «Ich wuchs mit der Jodelkultur auf und bin seit jeher mit ihr verbunden. Mir fiel jedoch vor Kurzem auf, das die Gärnli teils sehr einfach gestaltet sind. Da nahm ich mir vor, die Trachten mit etwas anspruchsvolleren Gärnli zu verschönern. Schliesslich ist eine Tracht zu tragen etwas Wunderschönes», erzählt die ursprüngliche Wynigerin.
Das Stricken der Gärnli erfolge nach vorgegebenen Mustern und Modellen. «Deshalb bin ich immer auf der Suche nach alten Musterplänen», so Andrea Bielser. Diese Musterpläne ähneln einem Stadtplan. So steht beispielsweise ein Kreissymbol für einen Umschlag. «Das Stricken erfolgt strikt nach Anleitung.» – Ein Grund, weshalb sie die Bezeichnung «Kunststricken» nicht mag: «Ich sehe das nicht als Kunst an», meint Andrea Bielser bescheiden.
Die teils uralten Musterpläne findet sie auf Märkten oder in Brockenstuben. Generell hat Andrea Bielser stets ein Auge offen für neue Muster und Vorlagen. Das «Lisme» an sich sei ein altes und traditionelles Handwerk. «Mir ist wichtig, dass die Tradition des Strickens erhalten bleibt», hält sie fest.
Mit den Händen kreativ arbeiten
Nebst der Bewahrung der Tradition des Strickens mag Andrea Bielser die handarbeitliche Tätigkeit aus verschiedenen Gründen. «Während dem Stricken sieht man nicht viel. Erst am Ende ist das gesamthafte Resultat der investierten Zeit zu sehen. Zu Beginn sind es sechs Maschen, am Ende dann Tausende. Ich mag es, wenn meine Arbeit in etwas endet, das ich in den Händen halten kann.» Sie möge generell jegliche Tätigkeiten, die Handarbeit und Kreativität vereinigen. Ab und an tauscht Andrea Bielser seit Neustem die Nadel gegen die Füllfeder ein. «Ich habe mit der Kalligrafie, der Kunst des Schönschreibens, begonnen. Mir wird folglich nie langweilig», meint sie lachend.
Die Sumiswalderin bezeichnet sich als geduldige Person. «Rege ich mich jedoch trotzdem mal auf, nehme ich einfach meine ‹Lismete› in die Hände und kann so wieder herunterfahren», lacht sie. Sie schalte beim Stricken ab, es habe für sie einen mediativen Charakter.
Was ist denn die grösste Schwierigkeit ihrer grossen Leidenschaft? «Bei den Trachtengärnli beispielsweise sind die Ecken eine grosse Herausforderung. Bei einer Ecke angelangt, muss das Stricken gespiegelt fortgesetzt werden. Dabei darf man sich keinen Fehler erlauben, da man diesen bei den Gärnli sofort bemerkt», weiss die passionierte Handarbeiterin.
Für ihr Hobby nimmt sich die verheiratete Mutter eines Sohnes gerne Zeit. Für ein Trachtengärnli benötige sie neben Haushalt, kleineren buchhalterischen Aufträgen und der Versorgung der Haustiere etwa eine Woche. «Es kam aber auch schon vor, dass ich lediglich ein Wochenende für die Fertigung benötigt habe. Man kann beim Stricken ziemlich schnell in einen Rausch geraten», so Andrea Bielser schmunzelnd.
Ob innerhalb einer Woche oder an einem einzigen Wochenende – die Arbeit geht Andrea Bielser nicht aus. Im Jahr 2024 findet in Langnau das 54. Bernisch-Kantonale Jodlerfest statt. Für diesen Anlass fertigt sie eifrig Trachtengärnli. Unter Druck bringt sie dies nicht. «Wenn ich keine Lust mehr habe zu stricken, lege ich das Ganze einfach zur Seite und mache später weiter.»
Joel Sollberger