Angehörigenberatung und Selbsthilfe bei psychischen Erkrankungen

  19.11.2025 Gesellschaft, Gesellschaft, Bildung / Schule, Burgdorf, Region

Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, sind oft auch die Angehörigen stark betroffen. Sie versuchen zu helfen, zu verstehen und stark zu bleiben – nicht selten über die eigenen Grenzen hinaus. Die dauerhafte Belastung, verbunden mit einem Gefühl der Verantwortung und Hilflosigkeit, kann jedoch auch bei Angehörigen zu Stress, Erschöpfung und Überforderung führen.
Die Angehörigenberatung des Spitals Emmental bietet Partnerinnen, Partnern, Angehörigen, Freundinnen, Freunden und weiteren Betroffenen eine niederschwellige und individuelle Beratung an. Weitere Unterstützungsmöglichkeiten bieten Selbsthilfegruppen. Im Vortrag erfahren die Anwesenden, wie wichtig es ist, als Angehörige oder Angehöriger auch auf sich selbst zu achten, und es wird aufgezeigt, welche Beratungsangebote und Möglichkeiten der Selbsthilfe es gibt, um mit der Situation besser umzugehen und langfristig gesund zu bleiben.
Verena Christen, Bereichsleiterin Ambulantes Zentrum Buchmatt, Beatrice Graf, Bereichsleiterin Psychiatrie Spital Burgdorf, und Gabriela Kühni, dipl. Sozialberaterin FH von der Selbsthilfe BE haben sich im Interview zum Thema «Angehörigenberatung und Selbsthilfe bei psychischen Erkrankungen» geäussert.

«D’REGION»: Warum sind Angehörige von Menschen mit psychischer Erkrankung besonders belastet – und oft selbst gefährdet?
Verena Christen: Psychische Erkrankungen werden in der Gesellschaft leider häufig stigmatisiert. Angehörige tragen viel und sind auch von den Stigmatisierungen betroffen. Dies kann bedeuten, dass sie sich zurückziehen und selber krank werden.

«D’REGION»: Was sind typische Reaktionen oder Gefühle, mit denen Angehörige konfrontiert sind?
Verena Christen: Hilflosigkeit und Überforderung zählen zu den wichtigsten Gefühlen, die Angehörige mit sich tragen. Angehörige sehen es oft als ihre Pflicht, sich um die erkrankte Person zu kümmern. Die eigenen Bedürfnisse werden vernachlässigt oder gar nicht mehr erkannt.

«D’REGION»: Was erwartet Angehörige, wenn sie sich bei Ihnen melden – wie läuft eine Beratung konkret ab?
Beatrice Graf: Wir sind offen für alle Fragen und Anliegen, die Angehörige haben. Oft geht es darum, dass die Angehörigen ihre Sorgen deponieren und den Kopf leeren können. Wir ermuntern Angehörige, zu sich selber zu schauen und Sachen zu machen, die ihnen guttun und Kraft geben. Bei Bedarf klären wir über die Erkrankung auf und verweisen auf weitere Unterstützungsangebote.

«D’REGION»: Welche Themen oder Sorgen bringen Angehörige besonders häufig mit?
Beatrice Graf: Häufig geht es darum, einen besseren Umgang mit den Belas­tungen zu finden, Fragen zu klären und zu schauen, wie die Angehörigen sich konkret entlasten können.

«D’REGION»: Was raten Sie Menschen, die sich zwischen Mitgefühl, Verantwortung und Selbstschutz aufreiben?
Verena Christen: Wir raten den Angehörigen, gut auf sich selber zu achten und die eigene Belastbarkeit zu erkennen und zu respektieren. Nur wer zu sich selber gut schaut, kann auch zu anderen schauen.

«D’REGION»: Wie helfen Sie Angehörigen dabei, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu schützen?
Beatrice Graf: Wir nehmen oft Bezug auf die zehn Punkte der psychischen Gesundheit und ermuntern die Angehörigen, zu schauen, wo und wie sie sich entlasten und sich selber Gutes tun können.

«D’REGION»: Was ist aus Ihrer Sicht der grösste Irrtum, den Angehörige im Umgang mit psychisch Erkrankten häufig erleben?
Verena Christen: Angehörige bemühen sich oft sehr und hoffen, die erkrankte Person heilen zu können. Viele Angehörige gehen davon aus, dass sie mit viel Liebe, Motivation und Logik die erkrankte Person wieder auf die Beine bringen. Angehörige neigen dazu, übermässig viel Verantwortung zu übernehmen.

«D’REGION»: Was unterscheidet eine Selbsthilfegruppe von einer professionellen Beratung – und wie ergänzen sich diese Angebote?
Gabriela Kühni: In eine Selbsthilfegruppe für Angehörige kommen Menschen, die Ähnliches erleben, vergleichbare Anliegen und Belas­tungen haben. Sie wollen sich mit Gleichbetroffenen austauschen, teilen Erfahrungen und Wissen aus, stärken sich gegenseitig und entwickeln gemeinsam Strategien zur Bewältigung ihrer Lebenssituation und im Umgang mit ihren erkrankten Angehörigen. Selbsthilfegruppen arbeiten nicht gewinnorientiert und ersetzen keine professionelle Therapie, sondern ergänzen diese durch gegenseitige Unterstützung und Solidarität.

«D’REGION»: Wie funktioniert eine Selbsthilfegruppe konkret – wer kann teilnehmen und wie läuft ein Treffen ab?
Gabriela Kühni: Selbsthilfegruppen treffen sich regelmässig, in der Regel monatlich, zum gemeinsamen Austausch. Eine regelmässige Teilnahme, die Bereitschaft, seine Erfahrungen zu teilen, aber auch zuzuhören, psychische Stabilität, soziale Kompetenz und Verbindlichkeit werden vorausgesetzt. Es geht darum, gemeinsam einen besseren Umgang mit der
Situation zu finden.

«D’REGION»: Was berichten Teilnehmende darüber, wie die Gruppe ihnen geholfen hat?
Gabriela Kühni: Es ist eine grosse Erleichterung, andere Leute kennenzulernen, die in ähnlichen Situationen leben, die verstehen, wovon gesprochen wird. In der Gruppe kann ich Erfahrungen teilen und daraus Kraft schöpfen. Hier kann ich auch über Tabuthemen sprechen. Ich erhalte inspirierende Impulse und ich lerne die Erkrankung meines Angehörigen und den Umgang damit besser zu verstehen. Ich erhalte praktische Alltagtipps, fasse Mut und kann neue Perspektiven entwickeln. Gemeinsam geht vieles leichter.

«D’REGION»: Warum fällt es vielen Angehörigen schwer, Hilfe für sich selbst anzunehmen?
Beatrice Graf: Angehörige kennen die Angebote nicht oder gehen davon aus, selber schauen zu müssen. Oft fehlt den Angehörigen auch die Zeit und Kraft, sich beraten zu lassen.

«D’REGION»: Wie hat sich das Bewusstsein für Angehörige psychisch erkrankter Menschen in den vergangenen Jahren verändert – auch gesellschaftlich?
Verena Christen: Aus unserer Sicht sind die Angehörigen zentrale und wichtige Menschen. Dass auch sie Unterstützung brauchen, erscheint uns ganz wichtig. Es wird viel mehr über psychische Erkrankungen und Angehörige gesprochen als vor einigen Jahren – das sehen wir als positives und erfreuliches Zeichen.

Text und Bild: zvg
Vortrag in Burgdorf: Donnerstag, 27. No­­vember 2025, 19.00 Uhr, im Kurslokal des Spitals Emmental (EG), Oberburgstrasse 54, Burgdorf.
Vortrag in Langnau: Donnerstag, 4. Dezember 2025, 19.00 Uhr, im Restaurant des Spitals Emmental, Dorfbergstrasse 10, Langnau.
Referentinnen/Referenten: Team der Angehörigenberatung, Mitarbeiterin der Selbsthilfe BE.


Image Title

1/10


Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote