Chronische Schmerzen verstehen und behandeln
12.11.2025 Region, Region, GesellschaftIn ihrem Vortrag «Wenn Schmerz den Alltag bestimmt – Wege zurück zur Lebensqualität» zeigen eine Spezialistin und zwei Spezialisten des Schmerzzentrums Emmental, wie Schmerzen entstehen, wann sie chronisch werden und welche modernen Behandlungsmöglichkeiten heute zur Verfügung stehen – von sanften Methoden bis hin zu hochspezialisierten Verfahren. Ein Abend für Betroffene, Angehörige und alle, die mehr über den Umgang mit chronischen Schmerzen erfahren möchten.
«D’REGION»: Was unterscheidet chronische von akuten Schmerzen und warum ist das für die Behandlung so entscheidend?
Katrin Lindner Rüdt: Akute Schmerzen haben meistens einen «Warneffekt» beziehungsweise sind als Reaktion auf einen Reiz zu verstehen und nehmen im Verlauf oder wenn der Reiz nachlässt wieder ab. Als chronisch werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie seit mindestens drei beziehungsweise sechs Monaten andauern und über einen akuten Reiz hinaus weiterbestehen. Sie können nach Verletzungen, Operationen, Nervenreizungen, Entzündungen etc. oder auch spontan auftreten. Je früher diese Schmerzen erkannt und behandelt werden, desto besser für den (Heilungs-)Verlauf. Wichtig ist, Schmerzen früh zu behandeln. Je früher man eingreift, desto geringer ist das Risiko, dass sie chronisch werden.
«D’REGION»: Wann sollte man eine spezialisierte Schmerztherapie in Anspruch nehmen?
Stoyan Petkov: Wenn Schmerzen länger anhalten oder die üblichen Behandlungen nicht anschlagen, sollte man sich an eine Fachperson wenden. Besonders bei Nervenschmerzen ist rasches Handeln wichtig. In der Regel beginnt man mit der Konsultation des Hausarzts oder der Hausärztin – wenn sich keine Besserung zeigt, ist eine spezialisierte Schmerztherapie sinnvoll.
«D’REGION»: Was passiert beim ersten Termin im Schmerzzentrum?
Katrin Lindner Rüdt: Wichtig ist, die Schmerzen in all ihren Facetten und Ausprägungen zu erfassen. Bei uns im Schmerzzentrum besteht die Erstkonsultation aus einem gezielten und umfassenden Gespräch, bei dem ich versuche, die Patientin / den Patienten als Person mit ihrer/seiner Geschichte und ihrem/seinem Umfeld zu erfassen. Besprochen wird auch die Dauer, die Intensität, das Auftreten, die Schmerzqualität, der Verlauf seit Auftreten der Schmerzen und bisherige Abklärungen und Therapien. Es folgt eine körperliche Untersuchung und es werden weitere vorhandene Befunde beigezogen, beispielsweise Röntgen- oder MRI-Bilder, neurologische Messungen, rheumatologische Unterlagen sowie andere fachärztliche Befunde. Anschliessend bespreche ich mit der Patientin / dem Patienten die therapeutischen Möglichkeiten und mache Vorschläge im Sinne einer multimodalen Schmerzbehandlung.
«D’REGION»: Welche Rolle spielt die Medikation heute noch – und wo liegen deren Grenzen?
Marc-Celdric Labourdette: Medikamente sind wichtig und oft wirksam, können aber Nebenwirkungen oder Abhängigkeiten verursachen. Doch insgesamt gibt es in der medikamentösen Behandlung chronischer Schmerzen bereits viele medizinische Fortschritte. Dennoch suchen viele Betroffene nach Alternativen. Wir kombinieren Medikamente heute gezielter und individueller als früher. Sie sind ein wichtiger Teil der Behandlung – aber nie die einzige Lösung.
Stoyan Petkov: In der Akutphase helfen klassische Schmerzmittel. Wenn Schmerzen chronisch werden, setzen wir sogenannte Co-Analgetika ein – diese werden zusätzlich zu den klassischen Schmerzmedikamenten verabreicht, um die schmerzstillende Wirkung zu unterstützen. Es sind Medikamente, die das Nervensystem beeinflussen und Schmerzen anders regulieren. Die Kunst liegt darin, die richtige Kombination unter Berücksichtigung der potenziellen Nebenwirkungen zu finden.
«D’REGION»: Welche nicht-medikamentösen Verfahren haben sich in der modernen Schmerztherapie bewährt?
Marc-Celdric Labourdette: Hier unterscheiden wir zwischen nicht-invasiven (ohne Eingriff) und invasiven Methoden. Nicht-invasiv sind zum Beispiel Physiotherapie, Hypnose, kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze, Meditation, Bewusstseinsschulung, unterstützende Psychotherapie, aber auch körperbezogene Methoden wie die perkutane Elektrostimulation, Schröpfen, Ohr-Akupunktur, Akupunktur oder die transkranielle Magnetstimulation.
In der Gruppe der invasiven Methoden findet man Gelenkinfiltrationen, Sehneninfiltrationen, gezielte Infiltrationen im Bereich eines bestimmten Nervs sowie Elektrostimulation mit verschiedenen Techniken, etwa die periphere Nervenstimulation, die Stimulation des dorsalen Spinalganglions oder die Stimulation der Hinterstränge des Rückenmarks. Bei einer Infiltration wird das Medikament mit einer Spritze an eine bestimmte Stelle injiziert.
«D’REGION»: Gibt es Mythen rund um chronische Schmerzen?
Katrin Lindner Rüdt: Ja, die gibt es sicher. Wichtig ist: Nach vielen Jahren Schmerz führt selten eine einzelne Behandlung sofort zur Schmerzfreiheit – das muss offen angesprochen werden, um falsche Erwartungen zu vermeiden. Oft fürchten Betroffene auch, nicht ernst genommen zu werden, weil Schmerzen auf Röntgenbildern oder Scans nicht sichtbar sind. Deshalb ist es uns besonders wichtig, zuzuhören und klarzumachen: Diese Schmerzen sind real. Chronische Schmerzen gelten heute als anerkannte Krankheit – das hilft, Vorurteile und Stigmatisierungen abzubauen.
Marc-Celdric Labourdette: Ein weitverbreiteter Irrtum ist, dass man Schmerzen immer sehen müsse, etwa an einer Verletzung oder Schwellung. Gerade bei Nervenschmerzen ist das Gegenteil der Fall – äusserlich sieht man oft nichts, obwohl die Betroffenen starke Beschwerden haben.
«D’REGION»: Ist völlige Schmerzfreiheit immer das Ziel?
Katrin Lindner Rüdt: Nicht immer. Bei langjährigen Schmerzen ist eine vollständige Schmerzfreiheit oft nicht erreichbar. Ziele können auch sein: weniger Schmerzintensität, dass der Nachtschlaf erholsamer und schmerzärmer wird oder dass die Schmerzen nicht zunehmen. Hier sind offene und ehrliche Gespräche über Erwartungen entscheidend – das Vertrauen zwischen Patient/in und Ärztin/Arzt ist sehr entscheidend für einen positiven Verlauf.
Stoyan Petkov: Unser Hauptziel ist immer eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität und ein besserer Umgang mit den Schmerzen.
«D’REGION»: Wie helfen Sie Betroffenen, trotz Schmerzen wieder an Lebensqualität zu gewinnen?
Katrin Lindner Rüdt: Indem wir gemeinsam verschiedene Behandlungsmöglichkeiten besprechen, ausprobieren und immer wieder an die aktuelle Situation anpassen. Entscheidend sind Vertrauen und die Überzeugung, dass sich etwas verändern lässt. Wichtig ist auch, dass Patientinnen und Patienten sich gestärkt fühlen und ihre Selbstständigkeit behalten oder wiedererlangen.
Stoyan Petkov: Wir klären auf, reduzieren die Schmerzen, regen zur Selbsthilfe an und helfen dabei, die Schmerzen zu akzeptieren.
Marc-Celdric Labourdette: Die Verbesserung des Schlafs und des Tag-Nacht-Rhythmus, weniger Schmerzen im Alltag und wieder soziale Kontakte pflegen zu können – all das trägt entscheidend zur Lebensqualität bei. Auch die Rückkehr zu körperlicher Aktivität ist ein wichtiges Ziel, selbst wenn die Sportart oder Intensität angepasst werden muss. Wenn die Schmerzen nachlassen, lassen sich oft auch Medikamente und damit deren Nebenwirkungen reduzieren. Besonders schön ist zu sehen, wenn Patientinnen und Patienten wieder Dinge tun können, die ihnen wichtig sind – mit Kindern oder Enkelkindern spielen, sich bücken, spazieren gehen oder einfach wieder aktiv am Leben teilnehmen. Schritt für Schritt kehrt so Lebensfreude zurück.
zvg
Vortrag am Donnerstag, 20. November 2025, 19.00 Uhr, im Kurslokal des Spitals Emmental (EG), Oberburgstrasse 54, Burgdorf.
Referentin/Referenten: Dr. med. Stoyan Petkov, Leitender Arzt Orthopädie und Schmerzzentrum; Dr. med. Marc-Celdric Labourdette, stv. Leitender Arzt Schmerzzentrum; Dr. med. Katrin Lindner Rüdt, Spitalfachärztin Anästhesie und Schmerzzentrum.



