«Dann sind wir einfach ausgebüxt»

  30.11.2022 Aktuell, Foto, Rüegsau, Hasle bei Burgdorf, Gesellschaft, Region, Rüegsauschachen

«Ich machte mir Sorgen, ob ich das überhaupt schaffe, und meine Kinder fragten mich, ob ich mir das in meinem Alter wirklich antun wolle», erzählt Margrith Schär freimütig und fügt an: «Vor der Wanderung hatte ich im Bauch ein kribbeliges Gefühl.» – Das ist kaum erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die muntere Seniorin beim Gehen auf einen Rollator angewiesen ist. Offensichtlich musste Margrith Schär für das Pilgerprojekt ihre Komfortzone verlassen. Doch ihre mutige Entscheidung bereut die Bewohnerin des Alters- und Pflegeheims Hasle-Rüegsau keineswegs – im Gegenteil. Mit einem verschmitzten Lächeln berichtet sie stolz: «Dann sind wir einfach ausgebüxt.»  

Von der Idee zum Projekt
Initiantin Sabine Leuenberger, die als Pflegehelferin im Alters- und Pflegeheim arbeitet, fasst die Anfangsphase ihres Projektes so zusammen: «Auf der Rückfahrt vom ersten Ausbildungswochenende zur Pilgerbegleiterin kam mir die Idee, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Alters- und Pflegeheim pilgern zu gehen. Bei der letzten Mitarbeiterinfo hatte Heimleiter Roger Kalchofner informiert, dass geplant sei, mit noch mobilen Bewohnerinnen und Bewohnern kleinere Ausflüge zu unternehmen. Deshalb stiess meine Idee bei der Heim- und Pflegedienstleitung auf offene Ohren.» Doch genauso wie ihre Schützlinge betrat auch Sabine Leuenberger bei der Realisierung ihres Projektes Neuland. Sie musste ebenfalls dabei ihre Komfortzone verlassen.

Nach einer sorgfältigen Vorbereitung Grenzen verschieben
In mehreren Schritten bereitete Sabine Leuenberger die Teilnehmenden sorgfältig auf das bevorstehende Abenteuer vor. Als Einstieg hielt sie einen Vortrag zum Thema Pilgern und weckte bei den Zuhörenden eine Sehnsucht fürs Aufbrechen und fürs Unterwegssein. Sie beendete ihr Referat mit einem Zitat von Franz von Assisi: «Tue erst das Notwendige, dann das Mögliche und plötzlich schaffst du das Unmögliche.» Später organisierte Sabine Leuenberger für interessierte Bewohnerinnen und Bewohner eine Probewanderung, die ums Alters- und Pflegeheim Hasle-Rüegsau herumführte. Bei diesem «Schnupperpilgern» an einem heissen Sommertag lenkte die ausgebildete Pilgerbegleiterin den Fokus auf die Füsse. Sie lud die Teilnehmenden zum achtsamen Gehen und anschliessend zu einem erfrischenden Fussbad ein.

Wertvolle Unterstützung
Ohne die Unterstützung von verschiedenen Personen hätte Sabine Leuenberger ihr Projekt nicht realisieren können. «Entscheidend war natürlich die Zustimmung des Heimleiters. Es freute mich sehr, dass uns Roger Kalchofner
am Samstag auf der Etappe der Pilgerreise sogar begleitete», erwähnt Leuenberger. «Entlastend war für mich, dass ich die Pflegefachfrau Mandy Richter dabeihatte. Sie half mir bei medizinischen Fragen, was ich als enorm wertvoll empfand.»
Für Margrith Schär waren zwei weitere Begleitpersonen wichtig: «Herr Leuenberger, der Ehemann von Frau Leuenberger, begleitete uns mit dem Kleinbus des Alters- und Pflegeheims. Das gab mir die Gewissheit, dass ich die Wanderung jederzeit abbrechen könnte. Sehr froh war ich auch um Pflegehelferin und Samariterin Anna Widmer. Bei einem längeren Anstieg durfte ich mich auf meinen Rollator setzen. Dann stiess mich unser ‹Goldschatz› den Hügel hoch», erzählt Margrith Schär begeistert und Sabine Leuenberger ergänzt: «Eigentlich halfen fast alle Bereiche des Alters- und Pflegeheims Hasle-Rüegsau mit. Wir erhielten auch von der Aktivierung, von der Küche und vom Hausdienst eine wohlwollende Unterstützung, die ich nicht als selbstverständlich betrachte. Das Fachwissen, die Fertigkeiten und nur schon die Anteilnahme trugen viel zum Gelingen meines Projektes bei.»

Sorgen wegen Ausrüstung
«Natürlich hofften wir bei unserer Pilgerwanderung auf zwei trockene, milde Herbsttage. Doch ausgerechnet am besagten Wochenende zeichnete sich ein Kälteeinbruch ab», erinnert sich Leuenberger an die Tage vor ihrem Anlass. «Jetzt wurde mir bewusst, dass Menschen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben, oft weder über Mützen und Handschuhe noch über einen Rucksack oder eine Regenjacke verfügen.» Doch auch für dieses Problem fand Sabine Leuenberger eine Lösung: Als ehemalige Mitarbeiterin eines claro-Weltladens war es für sie ein Leichtes, die benötigten Handschuhe und Mützen aus ihrem persönlichen Fundus aufzutreiben.

Nicht alles verlief nach Plan
Die aussergewöhnliche Pilgerwanderung begann mit einem Konzert des Organisten Jürg Bernet in der Kirche Affoltern im Emmental, in jener Kirche, in der Frieda Reinhard, die älteste der Teilnehmerinnen, vor fast auf den Tag genau 68 Jahren geheiratet hatte. Zur Freude der Teilnehmenden erzählte Reinhard der Gruppe nach dem Konzert ihre persönliche Liebesgeschichte. Weil der zweite Tag regnerisch und kühl war, entschied Sabine Leuenberger, anstelle des geplanten Picknicks auf dem Bio-Hof Junkholz im Restaurant Bären in Dürrenroth eine Suppe zu geniessen. Diese Programmänderung wurde von den Pilgernden durchaus begrüsst. Ein Teilnehmer meinte gar: «Das Schönste an der Pilgerwanderung war der Mittagshalt im ‹Bären›, denn in diesem Restaurant nahm ich während meines Berufslebens ab und zu das Mittagessen ein.»

Zufriedene Initiantin und Zukunft des Projekts
Für Sabine Leuenberger hat sich der grosse Aufwand auf jeden Fall gelohnt: «Mit dem Pilgerprojekt konnte ich buchstäblich etwas in Bewegung bringen. Wir schafften es, für kurze Zeit aus dem Alltagstrott auszubrechen. Was mich fast am meisten beeindruckte, waren der Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft und die Rücksichtnahme innerhalb der Gruppe. Ich habe zudem das Gefühl, dass wir uns dank dem Pilgerprojekt nähergekommen sind.» Auf die Frage, ob sie im kommenden Jahr eine Fortsetzung des Projektes plane, meint Sabine Leuenberger: «Nach den positiven Erfahrungen bei der Premiere bin ich motiviert, auch im nächsten Jahr eine Pilgerreise für die Bewohnerinnen und Bewohner zu organisieren.»

«Abgelaufene» Füsse
Eigentlich hätte Margrith Schär an diesem Herbsttag einen Termin bei der Flusspflegerin Heidi Fankhauser. Doch weil es an der Herbstsonne vor dem Alters- und Pflegeheim Hasle-Rüegsau gerade so gemütlich ist, hält sich ihre Begeisterung für den Fusspflegetermin in Grenzen. Spontan lädt die Seniorin ihre Fusspflegerin ein, mit der Pilgergruppe einen Kaffee zu trinken. Kaum hat sich die Fusspflegerin zur Gruppe gesetzt, fragt Frieda Reinhard lachend: «Haben Sie bei den letzten Fussbehandlungen eigentlich gemerkt, wie abgelaufen unsere Füsse seit der Pilgerwanderung sind?» – Sollte es im kommenden Jahr eine weitere Pilgerwanderung geben, würde das Grüppchen ohne Zweifel erneut «ausbüxen».

zvg


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