«Schaufensterkrankheit» mindert Lebensqualität

  14.08.2024 Burgdorf, Gesellschaft

Gehprobleme, Schmerzen, Taubheits- und / oder Kribbelgefühle in den Beinen lassen sich oft auf Engstellen an der Wirbelsäule, eine sogenannte Spinalkanalstenose, zurückführen.
In seinem Vortrag erklärt PD Dr. med. Sebastian Bidgon, stv. Chefarzt der Klinik für Orthopädische Chirurgie im Spital Emmental, die typischen Symptome, Risikofaktoren und Behandlungsmöglichkeiten.

«D’REGION»: Was ist eine Spinalkanalstenose?
Sebastian Bigdon: Eine Spinalkanal­stenose ist eine Erkrankung der Wirbelsäule, bei der es zu einer Verengung des Hauptkanals, durch den die Nerven laufen, kommt. Der Spinalkanal ist ein wichtiger Bereich in der Wirbelsäule, der das Rückenmark und die darin verlaufenden Nervenfasern schützt. Die Einengung dieses Kanals kann viele Ursachen haben. Hierzu zählt eine einfache Abnutzung (Arthrose) der kleinen Gelenke der Wirbelsäule, aber auch der Bandscheibe. Darüber hinaus gibt es aber auch noch Veränderungen wie eine Verdickung oder Verkalkung der Bänder sowie seltenere Ursachen wie eine Verletzung bei einem schweren Trauma oder Einklemmungen durch Tumore.

«D’REGION»: Welche häufigen Symptome treten bei einer Spinalkanal­stenose auf?
Sebastian Bigdon: Die Symptome einer Spinalkanalstenose variieren je nach dem Bereich der Wirbelsäule, der betroffen ist. Bei einer Spinalkanal­stenose im Bereich der Halswirbelsäule, auch zervikale Stenose genannt, treten häufig Nackenschmerzen auf, die bis in die Schultern und Arme ausstrahlen können. Diese Schmerzen werden oft als dumpf oder stechend beschrieben. Begleitend dazu können Armschmerzen und -schwäche auftreten, wobei Kribbeln oder Taubheitsgefühle in den Armen, Händen oder Fingern sowie eine Muskelschwäche in den Armen das Greifen und Heben erschweren. Auch Koordinationsprobleme sind häufig, was sich in Schwierigkeiten bei feinmotorischen Aufgaben wie dem Schliessen von Knöpfen oder dem Schreiben äussern kann. Viele Patienten berichten zudem über eine Gangunsicherheit, die zu einem unsicheren oder steifen Gang führt. In schweren Fällen können sogar Blasen- und Darmfunktionsstörungen auftreten, die sich durch Probleme beim Wasserlassen oder Stuhlgang und im schlimmsten Fall durch einen Verlust der Blasen- oder Darmkontrolle bemerkbar machen. Diese Symptome werden unter dem Krankheitsbild einer «Myelopathie» zusammengefasst. Da die entsprechenden Symptome sehr subtil sind, ist eine Diagnose im Anfangsstadium oftmals sehr schwierig.

«D’REGION»: Und wie zeigt sich eine Spinalkanalstenose weiter unten?
Sebastian Bigdon: Im Gegensatz zur zervikalen Stenose äussert sich eine Spinalkanalstenose im Bereich der Lendenwirbelsäule oft durch Schmerzen im unteren Rücken, die bis in das Gesäss und die Beine ausstrahlen. Zusätzlich treten Beinschmerzen und -schwäche auf, begleitet von Kribbeln oder Taubheitsgefühlen in den Beinen oder Füssen sowie einer Muskelschwäche, die das Gehen und Stehen erschwert. Ein charakteristisches Symptom der lumbalen Stenose ist die sogenannte Claudicatio spinalis, bei der Schmerzen und Schwäche in den Beinen nach kurzem Gehen oder Stehen auftreten und sich durch Vorbeugen oder Hinsetzen bessern. Betroffene müssen häufig Pausen einlegen, wenn sie längere Strecken gehen, was diesem Symptom den Beinamen «Schaufensterkrankheit» eingebracht hat. Sensibilitätsstörungen, wie eine verminderte Berührungsempfindlichkeit oder das Gefühl von Nadelstichen in den Beinen und Füssen, sind ebenfalls häufig. Auch hier können in fortgeschrittenen Fällen Blasen- und Darmfunktionsstörungen auftreten, die sich ähnlich wie bei der zervikalen Stenose durch Probleme beim Wasserlassen oder Stuhlgang und im schlimmsten Fall durch einen Verlust der Blasen- oder Darmkontrolle äussern.

«D’REGION»: Welche Risikofaktoren tragen zur Entwicklung einer Spinalkanalstenose bei?
Sebastian Bigdon: Die Entwicklung einer Spinalkanalstenose kann durch eine Vielzahl von Risikofaktoren begünstigt werden. Einer der wichtigsten Risikofaktoren ist das Alter. Mit zunehmendem Alter unterliegt die Wirbelsäule natürlichen degenerativen Veränderungen. Bandscheiben verlieren an Höhe und Flexibilität, und es können knöcherne Auswüchse (Osteophyten) entstehen, die den Spinalkanal verengen. Erbliche Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Menschen mit einer familiären Vorgeschichte von Wirbelsäulenerkrankungen (wie zum Beispiel einem familiär eng angelegten Spinalkanal) oder angeborenen Anomalien der Wirbelsäule haben ein höheres Risiko, eine Spinalkanalstenose zu entwickeln.
Wirbelsäulenverletzungen können ebenfalls zu einer Spinalkanalstenose führen. Traumatische Ereignisse wie Unfälle oder Stürze können Brüche oder Verschiebungen der Wirbel verursachen, die den Spinalkanal und damit die Nerven verengen. Übergewicht ist ein weiterer wichtiger Risikofaktor, da es die Belastung der Wirbelsäule erhöht und zu einer schnelleren Abnutzung der Bandscheiben und Gelenke führen kann. Dies wiederum kann zu einer symptomatischen Ein­engung der Nerven führen.
Auch berufliche Tätigkeiten oder sportliche Aktivitäten, die wiederholte Belastungen oder Überbeanspruchungen der Wirbelsäule mit sich bringen, können das Risiko erhöhen. Menschen, die schwere Lasten heben oder repetitive Bewegungen ausführen, sind besonders gefährdet. Auch konnte ein Zusammenhang zwischen Sportarten mit viel Stop-and-Go und einer schnelleren Abnutzung der Wirbelsäule festgestellt werden. Hierzu zählt zum Beispiel Golf, Tennis und Squash. Ebenso können entzündliche Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis zur Entwicklung einer Spinalkanalstenose beitragen, indem sie die Gelenke und Bänder der Wirbelsäule entzünden und verdicken.

«D’REGION»: Welche konservativen Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei der Spinalkanalstenose und wie effektiv sind diese?
Sebastian Bigdon: Bei der Behandlung einer Spinalkanalstenose stehen zunächst konservative, also nicht-operative Methoden im Vordergrund, insbesondere, wenn die Symptome nicht stark ausgeprägt sind oder sich nur langsam verschlechtern. Eine wichtige Massnahme ist die Physiotherapie, die spezielle Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur, zur Verbesserung der Flexibilität und zur Förderung der allgemeinen Beweglichkeit beinhaltet. Durch regelmässige physiotherapeutische Übungen berichten viele Patienten/-innen von einer deutlichen Linderung der Symptome und einer Verbesserung der Lebensqualität.
Eine weitere konservative Behandlungsmöglichkeit ist die medikamentöse Therapie, bei der Schmerzmittel wie nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und entzündungshemmende Medikamente eingesetzt werden, um Schmerzen und Entzündungen zu lindern. In einigen Fällen können auch Muskelrelaxantien oder Antidepressiva zur Schmerzbewältigung verschrieben werden. Diese Medikamente können kurzfristig sehr effektiv sein, insbesondere bei akuten Schmerzepisoden, jedoch ist bei langfristiger Anwendung Vorsicht geboten, um Nebenwirkungen und Abhängigkeiten zu vermeiden.
Injektionen von Lokalanästhesie und Cortison an der Wirbelsäule oder den Nerven sind eine zusätzliche Option, um Entzündungen und Schwellungen zu reduzieren. Diese Behandlung kann den Druck auf die Nervenwurzeln verringern und führt bei vielen Leidenden zu einer signifikanten, aber oft nur vorübergehenden Linderung der Symptome. Die Injektionen können mehrmals wiederholt werden, sollten jedoch nicht als langfristige Lösung betrachtet werden.
Eine Aktivitätsmodifikation wie das Vermeiden von Aktivitäten, die die Symptome verschlimmern, und das Erlernen ergonomischer Techniken zur Minimierung der Wirbelsäulenbelastung können sehr effektiv sein, um akute Schmerzepisoden zu vermeiden. Eine weitere Massnahme ist die Gewichtsreduktion, da Übergewicht die Wirbelsäule zusätzlich belastet. Studien zeigen, dass selbst eine moderate Gewichtsreduktion zu einer signifikanten Linderung der Symptome führen kann. Schliesslich können Schmerzbewältigungsstrategien wie kognitive Verhaltenstherapie, Achtsamkeitsübungen und Entspannungstechniken Leidenden helfen, besser mit chronischen Schmerzen umzugehen. Diese Ansätze verbessern die Lebensqualität erheblich und erleichtern den Umgang mit chronischen Schmerzen, auch wenn sie die physische Ursache der Schmerzen nicht beseitigen.
Zusammengefasst können konservative Behandlungsmöglichkeiten bei vielen Patienten mit Spinalkanalstenose eine erhebliche Symptomlinderung und Verbesserung der Lebensqualität bewirken. Allerdings hängt die Effektivität stark von der individuellen Situation der Patientinnen und Patienten ab, einschliesslich der Schwere der Stenose und der allgemeinen gesundheitlichen Verfassung.

«D’REGION»: Wann ist eine operative Behandlung der Spinalkanal­stenose notwendig?
Sebastian Bigdon: Eine operative Behandlung der Spinalkanalstenose wird in der Regel dann notwendig, wenn konservative Therapiemethoden keine ausreichende Linderung der Symptome bringen oder wenn sich die Beschwerden verschlimmern und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Insbesondere bei starken und anhaltenden Schmerzen, deutlichen neurologischen Ausfällen wie Muskelschwäche/Lähmungen oder Taubheitsgefühlen, Problemen beim Gehen sowie Blasen- oder Darmfunktionsstörungen ist eine Operation häufig angezeigt. Das Ziel der chirurgischen Intervention ist es, den Druck auf das Rückenmark und die Nervenwurzeln zu verringern, um die Symptome zu lindern und die Funktionalität wiederherzustellen.

«D’REGION»: Welches sind die häufigsten Operationstechniken?
Sebastian Bigdon: Eine der häufigsten operativen Techniken zur Behandlung der Spinalkanalstenose ist die mikroskopische Dekompression, bei der der Druck auf das Nervengewebe durch die Entfernung von knöchernem und weichem Gewebe reduziert wird. Hierbei werden spezielle Instrumente und Mikroskope verwendet, um präzise Eingriffe mit minimaler Schädigung des umliegenden Gewebes durchzuführen. Diese Methode ist besonders für Patienten geeignet, die von minimal-invasiven Verfahren profitieren möchten, da sie weniger invasiv ist und eine schnellere Genesung ermöglicht.
Neben der Dekompression kann in einigen Fällen auch eine Fusion oder Stabilisierung der Wirbelsäule notwendig sein. Bei diesem Verfahren werden zwei oder mehr Wirbel miteinander verschmolzen, um die Stabilität der Wirbelsäule zu gewährleisten. Dies kann mit Hilfe von Knochentransplantaten und Metallimplantaten erreicht werden. Eine Fusion wird oft in Kombination mit einer Dekompressionsoperation durchgeführt, insbesondere, wenn durch die Entfernung von Knochenstrukturen die Stabilität der Wirbelsäule beeinträchtigt wird. Ziel dieser Technik ist es, die Beweglichkeit des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts zu verringern und dadurch Schmerzen und Instabilitäten zu reduzieren. Auch Fusionsoperationen werden, wenn immer möglich, minimalinvasiv durchgeführt.

«D’REGION»: Welche langfristigen Prognosen haben die Patienten/-innen nach einer Operation?
Sebastian Bigdon: Die langfristige Prognose für erkrankte Menschen nach einer Operation wegen einer Spinalkanalstenose sind in der Regel positiv. Einige Studien zeigen, dass viele Patientinnen und Patienten nach einer operativen Behandlung eine signifikant verbesserte Lebensqualität erleben. Schmerzen, Taubheit und Schwäche, die durch die Stenose verursacht wurden, nehmen häufig deutlich ab, was zu einer gesteigerten Mobilität und einer besseren Fähigkeit zur Teilnahme am täglichen Leben führt. Ein wesentlicher Vorteil der Operation ist die Möglichkeit, dass Patienten/-innen mit schweren neurologischen Defiziten, wie beispielsweise einer Myelopathie, eine erhebliche Verbesserung erfahren. Bei einigen Patientinnen und Patienten, die vor der Operation Lähmungen hatten, kann die Wiederherstellung der Gehfähigkeit erreicht werden.
Die langfristige Prognose hängt jedoch auch von der individuellen Gesundheit der betroffenen Person, der genauen Art und Lokalisation der Stenose sowie der Qualität der Nachsorge ab. Eine gründliche postoperative Rehabilitation ist entscheidend, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Dies beinhaltet regelmässige Physiotherapie zur Stärkung der Muskulatur und zur Förderung der Beweglichkeit sowie regelmässige Nachsorgeuntersuchungen, um den Heilungsprozess zu überwachen und eventuelle Komplikationen frühzeitig zu erkennen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten Patienten/-innen nach einer Operation zur Behandlung einer Spinalkanalstenose eine deutlich verbesserte Lebensqualität und Funktionalität erleben. Die Fähigkeit, schmerzfrei oder zumindest schmerzarm und mit grösserer Beweglichkeit am täglichen Leben teilzunehmen, stellt für viele eine erhebliche Verbesserung dar
.

zvg


Vortrag: Langnau, 15. August 2024, 19.00 Uhr (Spital in Langnau); Burgdorf, 22. August 2024, 19.00 Uhr (Kurslokal Spital Emmental, Oberburgstrasse 54, EG).

 


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