Um 9.50 Uhr erfolgte der entscheidende Schnitt

  05.08.2020 Aktuell, Foto, Wirtschaft, Burgdorf, Gesellschaft

Ehemalige Mitarbeiter und interessierte Burgdorfer beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen verfolgen seit dem frühen Morgen gespannt, wie die Abbrucharbeiten bei der Passerelle über die Lyssachstrasse vorwärtsgehen. Der Ordnungsdienst achtet gewissenhaft darauf, dass sich niemand im Strassenbereich aufhält, da in kurzen Zeitabständen die Linienbusse heranfahren und hinter dem Aebi-Areal (auf der Gsteig-Seite) um das Fabrikgebiet herum geleitet werden.
Insider brillieren mit ihrem Wissen und geben es an die Umstehenden weiter, während ab 8.30 Uhr der hydraulische Betonzerkleinerer – wie der Fachausdruck lautet – wie ein gefrässiges Maul Stück um Stück aus der Passerelle beisst. Die Crew der Luzerner Abbruchfirma Aregger geht mit Vorsicht und Präzision ans Werk, niemals kommt Hektik auf. Jetzt hilft ein Blick in die Firmengeschichte, um die Warte­phasen zu überbrücken. Schliesslich dauert der Abbruch der Passerelle bis 12.30 Uhr.

Über 100-jährige Erfolgsgeschichte
Johann Ulrich Aebi gründet 1883 in Burgdorf eine Werkstatt zur Herstellung von Turbinen, daneben stehen Feuerspritzen, Pferdezug- und Sämaschinen im Angebot. Bereits ein Jahr später baut er die Werkstatt zu einem industriellen Unternehmen mit Serienproduktion aus. Die ursprüngliche Produktpalette umfasst landwirtschaftliche Hilfsmaschinen und Teilkomponenten für Pumpen bzw. Feuerspritzen. 1895 startet Aebi mit dem Nachbau der McCormick-Mähmaschine die Produktion erster motorbetriebener Landmaschinen.
Doch es geht noch weiter: Ab 1910 werden Dreschmaschinen, Futter- und Zangenaufzüge in die Produktion aufgenommen und im Jahr 1915 erfolgt der versuchsweise Einsatz eines Vier-Rad-Mähtraktors. Die Fertigung des Drei-Rad-Mähtraktors beginnt 1929. Von dieser Entwicklung zeugen die zusätzlich errichteten Gebäude auf dem Aebi-Areal.
Das Publikum beim Aebi-Kreisel hat bis jetzt die bessere Sicht auf die hydraulische Schere, die erst ein Loch in die dortige Seitenwand der Passerelle beisst und sich dann dem Dach zuwendet. Die Zuschauer hinter der Absperrung Richtung Bahnhof sehen nur Betonbrocken zu Boden fallen. Noch ist Geduld gefragt, also suchen Insider weiter in ihren Erinnerungen, während die neun Abbruchspezialisten vor Ort am Werk sind.

Peter Spuhler als Retter in der Not
Bis 2006 befindet sich die Firma in Familienbesitz. Dann kauft Peter Spuhler den Aebi-Konzern (und hält 57,5 Prozent der Aktien), der 2007 mit der Firmengruppe Schmidt fusioniert. Das ist noch vielen Zuschauern gegenwärtig, sie können sich an die «Rettung» der Aebi-Gruppe und die spätere Grundsteinlegung der neuen Aebi-Hallen in der Buchmatt gut erinnern. Währenddessen beissen sich jetzt zwei «Riesenscheren» an der Vorder- und Rückseite durch die Passerelle.
Das Unternehmen Aebi Schmidt Holding AG beschäftigt heute mehr als 1300 Mitarbeitende und erwirtschaftete 2013 einen Umsatz von knapp 300 Millionen Euro. Zwischendurch ein Ausruf: «Schau, jetzt ist das gesamte Dach der Passerelle durchtrennt!» Und später: «Jetzt hängt alles nur noch an den Armierungseisen!»

Schritt für Schritt
Die Scheren schneiden auf den Armierungseisen herum, der linke Teil der Passerelle hat sich bereits etwas gesenkt. Kevin Blättler, Leiter der Marketing-Abteilung beim Generalunternehmen Alfred Müller AG in Baar, fasst das Abbruchmanöver wie folgt zusammen: «Den Passerelle-Teil unter der früheren Uhr, die jahrelang 15.47 Uhr angezeigt hat, stützt eine massive Metallkonstruktion. Der linke Teil mit circa 6 Metern Länge und 41 Tonnen Gewicht wird mittels einer, später sogar zweier hydraulischer Betonzerkleinerern herausgeschnitten, der längere rechte Teil von circa 9 Metern Länge und 69 Tonnen Gewicht folgt später. Der Kran mit einer Hebekapazität von über 100 Tonnen hebt beide Betonteile an und platziert sie auf der nur wenige Meter entfernten Baustelle Suttergut Nord. Die dort abgelegten Betonelemente und Armierungseisen werden zu einem späteren Zeitpunkt in Einzelteile zerlegt und fachgerecht entsorgt.»
Nachdem links und rechts die an die Gebäude anstossenden Verbindungs­elemente der Passerelle abgetrennt und abgeführt worden sind, kann das 41 Tonnen schwere Mittelelement abgesenkt werden. «Damit dieses Element ebenfalls auf der Materialdeponie abgestellt werden kann, muss es erst um einige Tonnen erleichtert werden», erläutert Blättler.

Die Aebi-Familie
Ein ehemaliger Aebi-Mitarbeiter erzählt: «Parallel zur Angebotserweiterung wachsen seit der Gründung im Jahr 1883 die Gebäude auf dem Firmenareal an der Lyssachstrasse. In den Anfängen bringt ein Karrer mit dem Pferdewagen die Maschinen zum nahe gelegenen Bahnhof, wo sie auf die Waggons der EBT und SBB umgeladen werden. Jahrzehntelang glänzt Aebi als grösster Arbeitgeber von Burgdorf, manche Lehrlinge bleiben bis zur Pensionierung. Zwischendurch erreicht die Zahl der Beschäftigten die Tausender-Marke.»
Mitte des letzten Jahrhunderts müssen die Arbeitsabläufe verbessert werden, was sich durch die Passerelle erreichen lässt. Während die ersten Montagen für die Spezialfahrzeuge für die Kommunal- und Landwirtschaft im grossen Fabrikgebäude neben den Bahngleisen erfolgen, müssen diese anschliessend in den gegenüberliegenden Hallen fertiggestellt werden. Das problemlose Passieren erfolgt über die 15 Meter lange Passerelle, die wegen der grossen Gewichtsbelastung ein Maximum an Armierungseisen aufweist.
Während sich die hydraulischen Zangen durch letzte Betonbrocken und Armierungseisen arbeiten, kommentiert das Publikum die Bauweise. Und dann ist es endlich geschafft: Der linke Passerelle-Teil wird mit dem Kran langsam auf den Boden abgesenkt und nur wenig später auf das nebenliegende Areal zur Zerkleinerung transportiert.
Um 16 Uhr sind alle Aufräum- und Putzarbeiten an der Lyssachstrasse abgeschlossen. «Bis heute ist auf der ganzen Baustelle unfallfrei gearbeitet worden», betont Blättler.

Mieten und kaufen
Auf Anfrage bestätigt Blättler, dass nach Abbruch der Fabrikhallen bis Ende Jahr möglichst rasch mit dem Neubau von zwei Gebäuden mit 44 Mietwohnungen beziehungsweise 36 Eigentumswohnungen begonnen werden soll: «Zurzeit arbeiten wir intensiv an der Projektierung. Da wir die Baueingabe noch nicht eingereicht haben und nicht wissen, wie lange die Bearbeitung des Gesuches dauern wird, ist es noch zu früh, um eine Aussage zu Baustart und Bezug der Wohnungen zu machen», sagt Blättler und präzisiert: «Wir werden marktkonforme Mietpreise anbieten. Die letzte Etappe, die wir auf dem Areal Suttergut realisiert haben, konnten wir erfolgreich vermieten. Die vielen langjährigen Mieter sind ein Indikator dafür, dass unser Angebot Anklang findet.»


Gerti Binz


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