Improvisation und Bauchgefühl

  04.10.2022 Aktuell, Foto, Kultur, Utzenstorf, Wiler

Die Musik, die grosse Leidenschaft von Hans Rudolf Widmer, habe er praktisch in die Wiege gelegt bekommen, erzählt er. Sein Vater sei ein begnadeter Schwyzerörgeler gewesen und auch die Mutter habe bei guter Jazzmusik die Füsse nicht stillhalten können, erzählt der 77-Jährige lachend. Im Alter von zehn Jahren fing er mit der Mundharmonika an. «Schliesslich kam mein Bruder und sagte, dass er das Klarinettenspielen erlernen werde. ‹Und du holst dir eine Trompete›», erinnert sich Widmer. Er befolgte, wie im jungen Alter üblich, die Aufforderung seines älteren Bruders. Dieser Entschluss legte den Grundstein für sein späteres Jazzmusizieren. Die beiden Widmer-Brüder gingen zu den Jungbläsern der Arbeitermusik Bätterkinden, die heutige Harmonie Bätterkinden. Hans Rudolf Widmer konnte sein instrumentalisches Repertoire um das Saxofon erweitern.

Auf das Bauchgefühl hören
So übte Widmer schon in jungen Jahren das Trompeten- und Saxofonspiel. «Das Badezimmer war mein Übungsraum. Die Akustik war da natürlich sehr toll», lacht er. Für die musikbegeisterte Familie Widmer sind die lauten Töne kein Problem.
Schliesslich entdeckte Hans Rudolf Widmer die Jazzmusik für sich. «Ich hatte immer Mühe mit Noten lesen und lernte die Stücke jeweils einfach auswendig. Die Jazzmusik hingegen beruht auf Improvisation. Man hört auf das Bauchgefühl. Das war mit Sicherheit ein Grund für meine Leidenschaft für den Jazz. Diese Musik­richtung entsteht aus dem Bauch heraus.» Keine andere Musikrichtung erlaube ein derart grosses Mass an Kreativität, meint der gelernte Automaler. Grosses Vorbild ist dabei der begnadete und weltberühmte US-Musiker Louis Armstrong. «Er trug den Jazz von den USA in die Welt hinaus», so Hans Rudolf Widmer über Arm­strong, den er einst im «Casino» Bern bei einem Liveauftritt bewundern konnte. Aber auch den Schweizer Musiker und Orchesterleiter Hazy Osterwald empfand er als Inspiration. Bei einem «Jekami-Anlass» (jeder kann mitmachen) nahm Widmer seinen Mut zusammen, ging auf die Bühne und spielte mit auf der «Schnorregiege». Es sollte nicht sein letzter Auftritt sein. Später gründete er gemeinsam mit fünf Bekannten das Amorado-Sextett, mit welchem er bei zahlreichen Auftritten für Hüftschwünge und bewegende Füsse sorgte.

Musik als Sprache
Das Amorado-Sextett begeisterte die Leute und sorgte dafür, dass die sechs Musiker auch international auftreten konnten. «Wir hatten gar eigene Fans, welche uns auf Reisen nach Spanien oder nach New Orleans in den USA begleiteten.» Letztere Reise sei dabei ganz klar das absolute Highlight gewesen: «Die zehn Tage in New Orleans sind unvergesslich. Wir konnten dort in Klubs mit höchst begnadeten Jazzmusikern spielen», erinnert sich Hans Rudolf Widmer mit glänzenden Augen. New Orleans sei eine sehr tolle Stadt, Jazzmusik sei dort aus allen Ecken zu hören gewesen. «Von unserer Gruppe konnten bei Weitem nicht alle Englisch, doch wir haben uns mit den Leuten trotzdem bestens verstanden. Die Musik war unsere Sprache», erzählt er und meint damit die Bedeutung von Improvisation und Bauchgefühl, welche er selbst an dem Jazzgenre so schätzt.
Jazzmusiker/innen seien auch untereinander eng verbunden. So habe man bei den Auftritten mit dem Amorado-Sextett, bei welchem Widmer Bandleader war, jeweils auch Geld für alte kranke Jazzmusiker in New Orleans gesammelt.
Leben konnte Hans Rudolf Widmer von der Musik nie. Der Vater zweier erwachsener Kinder arbeitete schliesslich im Aussendienst einer Versicherung. «Wir waren Amateurmusiker und hatten einfach eine unglaubliche Leidenschaft für die Musik. Einmal in der Woche probten wir und konnten so auch gewissermassen dem Alltag entfliehen.»
Die Jazzmusik sei auch sehr vielseitig. Elemente aus verschiedenen Musikrichtungen können in den Jazz miteinfliessen. «Es kann aus jedem Song eine Jazzversion gemacht werden», so Hans Rudolf Widmer. Er und seine Band hörten jeweils die Hitparade und entschieden dann in den Proben, welcher Song in das Repertoire aufgenommen wurde. «Für einen Auftritt am Samstagabend war auch ein grosses Repertoire nötig, da wir schon gut und gerne sechs bis sieben Stunden gespielt haben.» Die Leidenschaft von Hans Rudolf Widmer war folglich eine energieraubende.
Als Bandleader teilte er in dem Sextett auch die jeweiligen Soli zu, die Königsdisziplin in der Jazzmusik. «Diese entstehen direkt aus den Emotionen und dem Bauch heraus.» Zwar gäbe es gleiche Titel oder Themen, die man spiele, doch jede Version klinge ein wenig anders. «Es kommt ganz auf denjenigen an, welcher das Solo spielt», weiss Hans Rudolf Widmer.

Die Instrumente im Koffer
Nach zahlreichen Auftritten endete schliesslich auch die Zeit des Amorado-Sextetts. Das Aufkommen von Discos und DJs war mit ein Grund dafür. Der leidenschaftliche Musiker trauert den alten Zeiten jedoch nicht nach. «Ich durfte sehr viele Eindrücke und Erlebnisse erfahren. Als die Buchungen weniger wurden, hatte ich mehr Zeit für die Familie. Es passte für mich», hält er fest.
Die Trompete und das Saxofon sind mittlerweile im Instrumentenkoffer verstaut. «Ich habe mittlerweile aufgehört zu spielen.» Die Erinnerungen und die Leidenschaft für Musik sind geblieben. Und Letztere hat er, wie einst seine Eltern, auch seinen Kindern weitergegeben. Hans Rudolf Widmers Sohn steht als Rapper auf der Bühne. Hie und da besucht er mit viel Stolz einen Auftritt des Sohnes. «Auch wenn es eine andere Musikrichtung ist, spielen auch bei dieser Improvisation und Bauchgefühl eine entscheidende Rolle.»


Joel Sollberger


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